HAMBURGER SZENE VON NIELS HOLSTEN
: Angst in der S-Bahn

Plötzlich stoppt die S-Bahn zwischen Hammerbrook und Hauptbahnhof. Ein Umstand, der mich, der latent unter Platzangst leidet, immer etwas beunruhigt. Klärt einen doch selten eine nette Stimme aus dem Off auf, was los ist.

Ich sitze und zum Glück sitzt mir meine Freundin gleich gegenüber. Sie lächelt mich entspannt an. Dann durchdringt ein Schrei das Abteil, gefolgt von dem Satz: „1984, es ist unglaublich, das gibt es doch gar nicht!“ Der Mann, der dies schrie, steht auf und stellt sich vor die S-Bahn-Türen. Er wiederholt sich.

Ich frage mich, was der Mann 1984 bloß Schreckliches erlebt hat. Die ersten Menschen beginnen sich weg zu setzen, ich schaue in verängstigte Gesichter. Meine Freundin scheint noch immer entspannt und flüstert mir zu: „Tourette“. Aha!

Der als Tourette-Kranker identifizierte steht nun direkt neben meiner Freundin. Er beugt sich hinab und brüllt in Richtung ihres Kopfes, so dass ihre Haare wehen: „1984, es ist unglaublich, das gibt es doch gar nicht!“ Jetzt kuckt auch meine Freundin verkrampft. Ich sehe mich veranlasst etwas zu tun und sage: „Hey – pscht, es ist alles gut, ganz ruhig.“ Seine Reaktion kommt in einer verblüffend anderen Tonlage daher. Mit einer kindlich piepsigen Stimme fragt er: „Glauben Sie, dass es noch lange dauert?“ Der Ärmste hatte von allen am meisten Angst.