Das Tor zur Welt

In der niedersächsischen Kleinstadt Stade haben Archäologen die älteste Burganlage zwischen Rhein und Elbe entdeckt. Ein Ruder und eine Schiffsanlegestelle deuten auf regen Handel im frühen Mittelalter hin

Als die berühmte Hammaburg noch gar nicht existierte, gab es in Stade bereits einen der ältesten Häfen Nordeuropas

AUS STADE BENJAMIN GEHRS

Schön ist es hier, grün und natürlich. Vor allem aber still. Auf den Koppeln grasen Pferde, in der Ferne fährt lautlos ein Traktor. Kein Zivilisationslärm stört das ländliche Idyll in Groß Thun bei Stade. Kein urbanes Werken, keine Industrie. Vor rund 1.300 Jahren war das noch ganz anders. Wo heute Pferde weiden, schwangen im frühen Mittelalter Schmiede ihre Hämmer, Glas wurde geschmolzen und Keramikgefäße geformt. Die heutige Kleinstadt Stade war im 7. Jahrhundert eine Metropole, ein „Machtzentrum“ in Norddeutschland, sagt Andreas Schäfer. Der Stadtarchäologe hat gerade die „älteste Burganlage zwischen Rhein und Elbe“ entdeckt.

Und die liegt zwischen Kuhweiden und Heuwiesen. Ein morastiger Feldweg führt zur als „Schwedenschanze“ bekannten Festung. Bislang hatte man angenommen, die Anlage sei erst im 17. Jahrhundert durch die Skandinavier erbaut worden. Nun hat ein zwanzigköpfiges Archäologenteam Holzteile freigelegt, die bis auf das Jahr 673 zurückdatiert wurden.

Der Fund ist eine kleine Sensation: nach bisheriger Lehrmeinung war der Norden Deutschlands zwischen 600 und 800 kaum besiedelt. Die Ausgrabungen zeigen nun, dass bei Stade sogar eine – für damalige Verhältnisse – Großstadt stand.

Von der Aura der Macht der mittelalterlichen Festungsanlage ist heute nicht mehr viel übrig: Mit dem Auge des archäologischen Laien ist von weitem nicht mehr als ein rund vier Meter hoher Erdwall zu erkennen. „Bei ‚Burgen‘ denken die Leute immer gleich an Neuschwanstein“, sagt Schäfer. Die „Schwedenschanze“ ist kein solcher Prachtbau. Ein mit Holzplanken und Grassoden verstärkter Wall schützte die Bewohner nach außen, obenauf eine Reihe von Holzpalisaden.

Im Lauf der Jahrhunderte ist im wörtlichen Sinne Gras über die Geschichte gewachsen. Die ehemals steilen Wälle sind abgesackt, die Holzpalisaden verschwunden. Dass sie überhaupt etwas finden konnten, erklärt Grabungsleiter Wolfgang Scherf, verdankten die Archäologen der Lage der „Schwedenschanze“. Die Festung steht auf einer natürlichen Fluss-Sandinsel inmitten eines Feuchtgebietes. An zwei, früher sogar an drei Seiten wurde sie von dem Fluss Schwinge begrenzt. Ohne dessen Feuchtigkeit hätten die unterirdisch liegenden Holzstücke nicht überdauern und auf die altsächsische Großstadt hinweisen können.

Im Burginnern türmen sich Erdberge, die von der wochenlangen Schwerstarbeit der Grabungshelfer zeugen. Nur die oberen 50 Zentimeter habe ein Traktor erledigt, sagt Wolfgang Scherf: „Alles andere wurde per Hand abgetragen.“ Auch am letzten Grabungstag sind noch Archäologiestudenten im Einsatz, bürsten auf allen vieren Holzstücke von Erde frei. „Das ist schon sehr viel Arbeit für wenig Geld“, sagt Ria Elena Behm. Die Hamburgerin ist einen Monat lang um fünf Uhr aufgestanden, um bei dem Projekt dabei zu sein. Aber der Aufwand habe sich auf jeden Fall gelohnt, findet sie, auch wenn sie selbst nur eine einzige Keramikscherbe ausgegraben hat.

Im Burginnern seien die Funde bisher ohnehin nicht so umfassend gewesen, räumt Grabungsleiter Scherf ein. Von wem und über welchen Zeitraum die Burg bewohnt wurde, ließe sich daher nicht mit Sicherheit sagen. „Ein Graf, könnte man vermuten.“ Zudem seien, niedrig geschätzt, mindestens fünfzig Männer zur Verteidigung notwendig gewesen. Ein möglicher Grund für die wenigen Funde im Innern ist, dass die Festung freiwillig und somit inklusive aller intakten Gegenstände verlassen wurde. „Für Archäologen ist es immer besser, wenn es durch eine Katastrophe zu Ende geht“, sagt Scherf.

Der ergiebigste Abschnitt der Ausgrabungen ist der Wall. Auf rund drei Meter Breite hat das Archäologenteam einen Querschnitt angefertigt. Über 180 Befunde sind hier mit kleinen gelben Marken gekennzeichnet. Eingriffe in die natürlichen Erdschichten sind durch dunkle Verfärbungen erkennbar. Die Fundhöhe jedes Gegenstandes ermittelt das Team mithilfe eines Nivelliergerätes. Auch Lageskizzen werden angefertigt und farbig koloriert. Archäologie ist zeitintensive Arbeit vieler Hände.

Seine Pausen verbringt das Grabungsteam in einem ehemaligen NVA-Zelt, das zwar löchrig ist, aber immerhin Schutz vor dem gleichmäßig stark blasenden Wind bringt. Hier ist auch der bisher spektakulärste Fund der Grabungen zu bestaunen. Jenseits des Walles, also zur Flussseite hin, haben die Archäologen ein Ruder gefunden, das wahrscheinlich zum Lenken von Schiffen eingesetzt wurde. „Kollegen vom Schifffahrtsmuseum haben gesagt: Das ist ziemlich eindeutig“, meint Scherf. Das Ruder ist erstaunlich gut erhalten. Damit das auch so bleibt, kommt es nun für eineinhalb Jahre in eine Zuckerlösung.

Gemeinsam mit dem Paddel haben Scherf und seine Kollegen eine Konstruktion freigelegt, die vermutlich dazu bestimmt war, darauf zu stehen. Längs- und Querstreben bilden eine Art Steg. Die „Arbeitsthese“ laute, sagt Schäfer, dass es sich um eine Schiffsanlegestelle handele. Wenn sich das bewahrheiten sollte, dann war die Burg bei Stade nicht nur Verteidigungsanlage, sondern auch Handelszentrum. Zu einer Zeit, in der die berühmte Hammaburg noch gar nicht existierte, hätte es demnach in Stade bereits einen der ältesten Häfen Nordeuropas gegeben. „Man kann davon ausgehen, dass hier Handel getrieben wurde“, glaubt Scherf. Und der fand, mangels Straßen, zu jener Zeit auf dem Wasserweg statt. Über die Schwenge ist es nur ein kurzer Weg bis zur Elbe.

Um die Thesen zu bestätigen, muss weitergegraben werden. „Im Moment haben wir mehr Fragen als Antworten“, sagt Stadtarchäologe Schäfer. Rückschlüsse auf Anzahl und Abstammung der Bewohner der „Schwedenschanze“ erhofft er sich von deren Gräbern. „Wir müssen den Friedhof finden“, sagt er, denn der sei der Schlüssel. Und auch die Hafenthese will erst noch belegt werden. Zu beiden Seiten der jetzigen Grabungsstelle will Schäfer daher entlang des Flusses im kommenden Jahr graben lassen. Bis dahin grasen hier erstmal wieder Pferde.