Trendsetter Ägypten

ARABISCHE REVOLUTION Der Arabische Frühling ist auch ein islamischer Frühling, sagt Julia Gerlach mit Blick auf Ägypten. Wo steuert die Region hin?

Die Revolution in Ägypten ist mit dem Sturz Mubaraks nicht zu Ende und das Land geht durch eine Phase, die man am ehesten mit einer Achterbahnfahrt vergleichen kann“, schreibt Julia Gerlach in ihrem gerade erschienen Buch „Wir wollen Freiheit! Der Aufstand der arabischen Jugend“. Damit fasst sie die Entwicklung seit Beginn des Jahres prägnant zusammen.

Bereits die 18 Tage auf dem Tahrirplatz glichen einem heftigen Auf und Ab der Gefühle. Wer sich noch einmal in diese Atmosphäre, die Herausbildung des „Tahrir-Gefühls“ und die Erfahrung des Zusammenschlusses über ideologische Grenzen hinweg versetzen möchte, ist bei dem Buch der Kairo-Korrespondentin gut aufgehoben. Es lebt von den Gesprächen, die die Autorin mit zahlreichen Menschen unterschiedlichen Hintergrunds geführt hat. In einem Kapitel streift Gerlach auch die Entwicklung in anderen arabischen Staaten, doch ihr Fokus liegt auf Ägypten. Darin unterscheidet sich ihr Buch von anderen Neuerscheinungen dieses Herbstes zum Thema.

Ägypten, schreibt Gerlach, war schon immer ein Trendsetter in der Region, vor allem, was Islamfragen angeht. Hier vertritt sie eine klare These: Der Arabische Frühling ist auch ein islamischer Frühling. Wohlgemerkt: sie spricht von Frühling, nicht von Revolution. Darunter versteht sie den anstehenden Erneuerungsprozess islamischer Organisationen wie Dschihadisten, Salafisten und der Muslimbrüder, aber auch Strömungen wie den Pop-Islam mit seiner Kopftuchmode oder dem „Islamotainment“. In dem Kapitel „Revolution und Religion“ beschreibt sie die Entwicklung dieser Gruppen und Tendenzen vor, während und nach der Revolution.

Bei den Muslimbrüdern beispielsweise erhebt sich die Frage, was die Organisation nach dem Wegfall des äußeren Drucks, der Repression während der Mubarak-Ära, noch zusammenhält. Heute gibt es mindestens 18 Parteien, die das Adjektiv „islamisch“ in ihrem Namen führen. Ein Generationenkonflikt, eine umstrittene Parteigründung, Debatten über das Programm, die Haltung gegenüber Frauen und Minderheiten sowie generell die Frage, welche Rolle die Religion im neuen Ägypten spielen soll, hat die Muslimbrüder an den Rand einer Zerreißprobe geführt. In diesen Diskussionen sieht Gerlach eine positive Entwicklung, die an das „Tahrir-Gefühl“ anknüpft. Die Autorin setzt dabei auf eine islamische „Bewegung, die so selbstbewusst ist, dass sie es nicht nötig hat, ihre Frömmigkeit immer wieder unter Beweis zu stellen“, und sich stattdessen den anstehenden politischen Fragen widmet.

An dieser Stelle wäre es interessant zu erfahren, ob sich die Debatten in Kairo auch in den ländlichen Gebeiten widerspiegeln. Hier waren die Muslimbrüder unter Mubarak mit ihren für die arme Bevölkerung wichtigen sozialen Netzwerken häufig die einzige Alternative zur Regierungspartei; hier fehlt weiten Teilen der Bevölkerung zudem die Tahrir-Erfahrung.

Trotz Gerlachs Hoffnung auf ein Überleben des Tahrir-Gefühls und der kollektiven Erfahrung einer übergreifenden Zusammenarbeit ist sie nicht blauäugig. Schon am 3. Februar fragt sie sich angesichts der damaligen Jagd auf ausländische Journalisten: „Was ist nur aus den freundlichen Ägyptern geworden? Ist das Hass und Ressentiment, der sich aufgestaut hat und jetzt freigelassen wurde? Wie um Himmels willen wird man diese entfesselten Gefühle je wieder zurückdrängen können, zurückstopfen in die dunkle Box? Wie sollen wir in Zukunft hier leben?“ Sie beschreibt die Demonstrationen vom Frühjahr, als die AktivistInnen den Militärrat mit der Forderung nach Rechenschaftspflicht für die alte Garde vor sich hertrieben, sowie die wachsende Kluft zwischen Liberalen und Linken einerseits und religiösen Strömungen andererseits. Nüchtern konstatiert sie, dass die erste Begeisterung über die Revolution längst verflogen ist, und merkt an, dass viele Jugendliche den Begriff „Revolution“ nicht mehr verwenden wollen.

Insofern ist es überraschend, dass Gerlach der künftigen Rolle des Militärs, das unter Mubarak nicht nur ein entscheidender politischer, sondern auch wirtschaftlicher Faktor war, nicht mehr Raum gibt. Erst nach den Wahlen wird die große Verfassungsdebatte anstehen, und dann wird sich entschieden, welchen Status das Militär künftig in der Gesellschaft hat, ob es beispielsweise auf einem Sonderstatus im Falle eines „nationalen Notstands“ beharrt. Sicher können wir die arabische Kristallkugel nicht auf das Jahr 2013 oder 2015 vorstellen, aber eins ist sicher: Die ägyptische Achterbahn wird auch in den kommenden Monaten weiterfahren. BEATE SEEL

Julia Gerlach: „Wir wollen Freiheit! Der Aufstand der arabischen Jugend“. Herder Verlag, Freiburg 2011, 200 Seiten, 16,95 Euro