Im Land der Nazis

ENTNAZIFIZIERUNG Nazis, Deutsche, Opfer: Frederick Taylors Studie über die Besetzung Nazideutschlands und was dann geschah

VON KLAUS BITTERMANN

Je länger die nationalsozialistische Vergangenheit zurückliegt, desto mehr Studien erscheinen zum Thema. Das neue Buch des britischen Historikers Frederick Taylors „Zwischen Krieg und Frieden“, in dem es um die „Besetzung und Entnazifizierung 1944–1946“ geht, ist dabei keineswegs nur eine weitere Recherche zum Thema „Aufarbeitung“, sondern es geht ihm darum, die Vergangenheit zu interpretieren.

Wie Ian Kershaw stellt sich auch Taylor die Frage, warum trotz heftiger Gegenwehr der Deutschen so wenig Widerstand nach der Besetzung des Landes durch die Alliierten geleistet wurde und die Werwölfe den Erwartungen weder der NS-Fanatiker noch der Amerikaner gerecht wurden. Für Taylor waren es vor allem Hunger und die tägliche Organisation des Überlebens, die über die NS-Ideologie siegte. Taylor, für den Geschichtsschreibung große Erzählung ist, bezieht sich dabei auf viele Primärquellen wie selbst geführte Interviews mit Zeitzeugen, auf die, wie man weiß, häufig kein großer Verlass ist, wenn es um historische Fakten geht, die aber unerlässlich sind, weil sich aus der subjektiven Sicht des Einzelnen nicht unwesentliche Erkenntnisse ziehen lassen wie etwa aus dem Bericht des österreichischen Juden Saul K. Padover, der seit 1943 als Verbindungsoffiziers in der psychologischen Kriegsführung der Amerikaner tätig war. Dessen Buch von 1946, das erst 1999 auf Deutsch erschien, ist eines der wichtigen Dokumente über die Nachkriegszeit.

Frederick Taylor beharrt in seiner Grundannahme darauf, dass, so schrecklich die Verbrechen der Alliierten gewesen sein mögen, deren Taten einen rationalen Kern hatten, nämlich Vergeltung. Dabei geht es weder um Legitimation noch um Aufrechnung, sondern um die Nachvollziehbarkeit von Handlungen, wie bereits in seinem umstrittenen Buch über Dresden, als er die britische Bombardierung der Stadt in Zusammenhang mit der militärischen Bedeutung Dresdens als unvermeidbar sah. Diese Position zu behaupten ist nicht so unnötig, wie viele vielleicht glauben, gerade in Zeiten, in denen Günter Grass in einem Interview mit der israelischen Zeitung Ha’aretz erzählt, sechs Millionen in russische Gefangenschaft geratene Wehrmachtsoldaten seien liquidiert worden. Die deutschen Kriegsgefangenen (in Wirklichkeit ca. 1 Million) starben jedoch vor allem an Mangelernährung. Der Hunger wurde allerdings nicht wie bei den Nazis vorsätzlich als Methode zur Ausrottung eingesetzt, vielmehr litt die gesamte Bevölkerung unter der Hungerkatastrophe.

Das sind selbstverständlich keine neuen Erkenntnisse, aber Taylor lässt in seinem Buch keinen Raum für eine derartige ideologische und obendrein faktisch falsche Sicht auf die Geschichte. Durch die Egalisierung der Opfer liegt der Schluss nahe, dass eben alle gelitten hätten, die Nazis werden dadurch zu einer Art außerirdischer Spezies, die mit den Deutschen nicht wirklich etwas zu tun hatten. Noch heute klingt dies in der offiziellen Rhetorik an, wenn sich Bundespräsidenten für die Nazi-Verbrechen entschuldigen, die „im Namen des deutschen Volkes begangen“ worden seien.

Die Wirklichkeit sah ein bisschen anders aus, denn bei Kriegsende zählte die Partei rund 8,5 Millionen Mitglieder, immerhin 10 Prozent der Gesamtbevölkerung, weit höher waren die Zahlen bei den den Nationalsozialisten angeschlossenen Organisationen, weshalb Taylor schreibt: „In den zwölf Jahren des Dritten Reiches hatten sich die Tentakeln des ‚Hitlerismus‘ in jede Stadt und jedes Dorf, jeden Winkel und jede Ritze des Alltagslebens geschoben.“ Und genau das machte die Entnazifizierung ja auch so problematisch, denn im Nachhinein kann man natürlich leicht die Nase darüber rümpfen, dass so viele Nazis ungeschoren davonkamen, aber abgesehen davon, dass die Entnazifizierung einzigartig war und man dabei auf keinerlei Erfahrungswerte zurückgreifen konnte, war es häufig gar nicht anders möglich, als rein pragmatisch vorzugehen, denn nicht nur hatten die Amerikaner gar nicht genügend Personal, um das Problem zu lösen, auch gab es kaum Deutsche, die nicht belastet waren und denen man zum Beispiel den Posten als Bürgermeister hätte anvertrauen können.

Ein Wunder ist es da, dass bei diesem Chaos und bei den unterschiedlichsten Interessen im Nachkriegsdeutschland dann doch erstaunlich schnell so etwas wie ein normales Leben einkehrte statt Bombenanschlägen und Widerstand gegen die Besatzung. Frederick Taylor hat mit seinem Buch auf überzeugende Weise dazu beigetragen, dass man diesen Prozess verstehen und nachvollziehen kann.

Frederick Taylor: „Zwischen Krieg und Frieden. Die Besetzung und Entnazifizierung Deutschlands 1944–1946“. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. Berlin Verlag, Berlin 2011, 560 Seiten, 28 Euro