Ins Herz der Finsternis

BILDGEWALT Carina Riedl bringt Lars von Triers Horror-Psychodrama „Antichrist“ als Kammerspiel auf die Bühne des Theaters Lübeck. Die Gewalt bleibt dabei in der Sprache, um die von den Kinobildern bestürmte Reflexion wieder einzuschalten

Ganz tief hinein ins Herz der Finsternis, die deutsche Waldeinsamkeit, wo Natursymbolik sprießt und gedeiht. Märchenzaubergruselige Bilder reißen Abgründe kunstvoll tiefenpsychologisch auf und ein Ehepaar kämpft mit der Schuld. Der Sündenfall: die Unbedingtheit der Lust in rückhaltloser Triebenthemmung des Geschlechtsaktes ausgelebt zu haben, während der unbeaufsichtigte Sohn aus dem Fenster stürzte. Aber die Selbstanalyse eskaliert zusehends, aus Sühnesehnsucht wird Blutopfergeilheit, Sex wird eine Ausdrucksform des Sadismus. Dann zerquetscht sie ihm die Hoden, schraubt dem Gatten einen Mühlstein in den Unterschenkel und schneidet sich selbst die Klitoris ab.

Erlöse uns von diesem Bösen, dem „Antichrist“, der Frau, mag manch schwachnervige Zuschauer von Lars von Triers Filmkunstwerk aus dem Jahr 2009 gedacht haben – und wurde erlöst, nämlich die Frau auf einer Art Scheiterhaufen verbrannt. Porno, Horrorfilm, Psychothriller, phantasmagorischer Filmessay und Andreij Tarkowski gewidmetes Kunstwerk. Summa summarum: ganz schön heftig.

„Ich war aufgewühlt und wütend, als ich den Film gesehen habe“, erzählt die österreichische Regisseurin Carina Riedl. Dennoch nahm sie die Herausforderung des Theaters Lübeck an, die anziehende und abstoßende cineastische Pracht auf der Kammerspielbühne zu inszenieren. „Von der Bildgewalt bestürmt, wird im Kino die Reflexion ausgeschaltet. Die wollte ich wieder einschalten. Die Gewalt der Filmbilder bleibt in der Sprache.“ Literarisches Theater? „Ja, ich glaube nein“, sagt Riedl. Die Darsteller sprechen zwar Regieanweisungen und geradezu lyrische Szenenbeschreibungen – wollen sich aber auch in den Dialogen existenziell auf ihre Figuren einlassen, „indem sie sich schonungslos wund machen“. Die Aufführung solle durchaus noch „eine Zumutung“ sein.

Was Riedl interessiert, ist das „erweiterte Hexenprinzip“, nämlich die Macht, „das Böse heraufbeschwören, Ängste Realität werden lassen zu können, jemanden durch Gedanken zu töten oder zu heilen.“ Also selbst zu bestimmen – statt bestimmt zu werden. So könne auch die vielfach kritisierte Frauenfeindlichkeit des Stoffes durchkreuzt, umgedreht werden: in Respekt. Peripetie!

Aber wer ist denn nun der Antichrist? „Beide, Mann und Frau sind es“, sagt Riedl. Er spielt sich als Vernunftanbeter mit Analytiker-Hybris zum Heiland der Rationalität auf, will seine traumatisierte Frau durch Konfrontation mit ihren Dämonen resozialisieren – und dabei die archaische Männerangst vor den Teufelsweibern bannen. „Beide sind Vertreter des Bipolaren der westlichen Philosophietradition“, denkt Riedl. Und denkt weiter, dass sie es eigentlich mit dem Philosophen Walter Benjamin halte, für den die Scheidung in Gut und Böse das Böse, die wahre Teufelei war.

„Schöpfungswunde Mensch“, formuliert das Theater Lübeck. Aber wer mag nun Antichrists Gegenspieler sein? „Das geht ja so nicht“, sagt Riedl. „Ich inszeniere Trauerarbeit – wie im Kreislauf von Tod und Leben die eigene Endlichkeit erkannt wird.“ Deswegen gebe es auf der Bühne auch keinen Realismus, sondern einen sakralen Ritualraum, der Schwellenübertritte ermöglicht: von Tag zu Nacht, Gott zu Antichrist, Männlichkeit zu Weiblichkeit. Schließlich gibt es ohne Böses nichts Gutes. Ohne Mann keine Frau. Und ohne Kino – nicht diesen Theaterabend.JENS FISCHER

■ So, 1. 2., 18.30 Uhr, Theater Lübeck, Junges Studio. Weitere Aufführungen: So, 15. 2. und So, 22. 2.