Am seidenen Faden

Mutig: Die Shakespeare Company spielt mit dem Kaufmann von Venedig ein riskantes Spiel – und gewinnt. Die unerbittliche Komödie kann in der Regie von Nora Somaini berühren – ohne das Stammpublikum zu verprellen

von BENNO SCHIRRMEISTER

Peter Lüchinger will weiter, Tim Lee stemmt sich dagegen. Und sie schenken sich nichts: Die Adern schwellen, die Sehnen treten hervor. Lüchinger scheint stärker zu sein, oder Lee nachgiebiger, je nachdem. Die beiden kommen nicht voneinander los, ihre Seiden-Krawatten sind zusammen geknotet, und trotzdem kommen sie Stück für Stück voran, ruckweise, von links nach rechts über die Bühne des Theaters am Leibnizplatz.

Das könnte, der Verdacht liegt sogar ziemlich nahe, mal wieder so eine Klamauk-Szene sein. Ist es aber nicht. Das wirkt tatsächlich wie ein gefährlicher Streit. Hier geht es um die Existenz. Mit jedem Schritt strangulieren sich die beiden Herren ein bisschen mehr – den anderen, klar, das ist ein durchaus willkommener erwünschter Effekt. Aber eben auch: sich selbst. Lüchinger, Urgestein der Bremer Shakespeare Company, spielt den Shylock, Lee den Antonio, die Titelrolle: Er ist der Kaufmann von Venedig.

Dieses „ist“ steht da nicht nur der Konvention halber. Es steht da mit gutem Grund. Und gerade weil man es schon lange nicht erlebt hat, dass SpielerInnen der Shakespeare Company mit ihren Rollen so verschmolzen wären, sie mit Leben hätten Füllen können, dass man Darsteller und Figur miteinander– grammatikalisch – hätte verwechseln dürfen. Diesmal geht es, sogar problemlos, man kann sagen: Beate Weidenhammer, neu im Ensemble, ist Portia. Markus Seuß ist Bassanio. Und vor allem und vorneweg ist Lüchinger Shylock, oh ja, ein sehr sehenswerter, Shylock – auch wenn er zwischendurch die komische Figur des Prinzen von Monaco macht.

Das liegt vor allem am Regie-Ansatz. Für die Inszenierung zeichnet Nora Somaini verantwortlich – und die hatte von vornherein zu verstehen gegeben, dass sie keine Anhängerin des Rollenwechsels ist: „Mechanisch“ wirke das mitunter, die Konzentration gehe flöten. Dass sie das Stück aus einer subjektiven Perspektive erzählen werde. Kurz, dass sie einer ganzen Reihe von Elementen der Shakespeare Company Haus-Ästhetik äußerst skeptisch gegenüber steht.

Eine kritische Sicht. Und sich dieser Kritik auszusetzen, sie, durch das Engagement der Frau aus Hamburg konstruktiv zu machen – das war eine doppelt mutige Entscheidung. Denn einerseits: Das geht ja an die Substanz. Eine Haus-Ästhetik, das ist künstlerisches Selbstverständnis. Und andererseits: Das Publikum ist daran gewöhnt, und die Company hat treue Anhänger. Wie leicht stößt man die vor den Kopf – und man ist auf die Einnahmen angewiesen.

„Der Kaufmann von Venedig“ ist für Wagnisse das richtige Stück. Antonio, der Kaufmann, handelt mit Risiko-Kapital. Sein Geld ist komplett angelegt. Seine Güter werden verschifft – und der Untergang der Boote bedeutet seinen Ruin. Aus dem werden ihm seine Freunde schon helfen. Umgekehrt entpuppt sich die scheinbar risikolose Schuldverschreibung – er bietet dem Wucherer Shylock, den er zuvor mit Hass verfolgt hat, im Scherz ein Pfund seines eigenen Fleischs zur Sicherheit – als tödliches Risiko. Denn Shylock, so weit, so bekannt, nimmt sie wörtlich. Fordert sie ein: Er will Rache.

Somaini hat nicht mit allen Dogmen der Company gebrochen. Und manches von dem, was sie hat mitteilen wollen, bleibt zu undeutlich. Am Anfang sitzt Antonio im Rollstuhl, er schüttelt sich konvulsivisch – der Videobeamer projiziert Bilder an die Rückwand, rot, es sieht aus, wie eine zuckende Herzkammer. Dass damit angedeutet sein soll, dass die gesamte Geschichte sich, verzerrt, in einer Art Flash-Back in seinem Kopf abspielt: Das errät wohl nicht jeder.

Allerdings: Das ist auch nicht notwendig. Die Figuren sind in kühles Videolicht getauchte Bewohner einer unbestimmt-klinischen Welt heutiger Hochfinanz: Somaini hat sie mit Lust an der Aggression gezeichnet. Sympathisch ist niemand: Aber ihr erbitterter Kampf berührt.

Aufführungen: heute & morgen sowie 5., 11., 26.10, 19.30 Uhr