Sind so viele Sünden

Calixto Bieito gastiert mit seiner Inszenierung „Tirant lo Blanc“ am HAU

Ein Laufsteg ist tief in den Saal des Hebbel-Theaters gebaut, eingefasst von Zuschauertribünen, vorn von einer Videowand gerahmt. Der Aufbau erinnert an einen Flügelaltar, und auch die Figuren auf der Bühne scheinen direkt daraus entsprungen: ein Ritter in Rüstung, der zum Kreuzzug aufbricht, halbnackte Frauen, Kleriker, eine blinde Harmoniumspielerin, Priester, die das Abendmahl verteilen. Viel dunkler katholischer Symbolismus, trotz der bunten Oberfläche im Stile neuen spanischen Designs.

Ohne sinnlich aufgeladene Gottesfurcht geht es wohl nicht, wenn die Spanier in ihrem Mythos graben. Katalonien ist Gastland auf der Frankfurter Buchmesse, die nächste Woche beginnt. Joanot Martorells Ritterroman „Tirant lo Blanc“, geschrieben im 15. Jahrhundert, erscheint in deutscher Neuauflage – und jetzt auch auf der Theaterbühne.

Für das Kulturprogramm, das zurzeit in Berlin und nächste Woche in Frankfurt läuft, hat Calixto Bieito auf Martorells 1.800 Seiten starken Roman zurückgegriffen, der dem Ritter Tirant auf seinen Feldzügen bis nach Konstantinopel folgt. Ein prestigeträchtiges Projekt, an dem den Regisseur vor allem interessiert, dass sich Tirant, dessen Neffe, die Hoffräulein oder die byzantinische Prinzessin gern den Sinnesgenüssen hingeben. Am Anfang der Inszenierung tastet sich eine blinde Sängerin an ihr Harmonium. Sie zückt einen ledergebundenen Roman, preist ihn als den „besten der Welt“ und liest: „Große Verwirrung herrscht im Gottesvolk. Gerechtigkeit soll zurückkehren.“

In den folgenden drei Stunden wird noch viel von Gottes Parteinahme für die Gerechten, von Kampf, Ehre und Treue die Rede sein. Doch in den Bildern, die Calixto Bieito dazu entwirft, steht die Gesellschaft in drängendem Konflikt mit diesen hehren Idealen. Der weiße Ritter Tirant ist ein blonder Schönling im Kettenhemd, der vom Pferd in die Arme der Frauen sinkt. Erotische Fantasiegestalten kreuzen seine Wege: strapstragende Nummerngirls, in Kleider gezwängte Frauen, deren Brüste sich entblößen, Jünglinge, die sich üppigen Weibern hingeben. Auf der Bühne wird gestohlen, vergewaltigt, gemordet, ohne dass zwischen den Sünden ein moralischer Unterschied auffällt.

Gesang und Musik unterbrechen die Handlung immer wieder, steigern die Gefühle noch einmal, wenn die Spitze eigentlich schon erreicht scheint. Wie Bieito mit der Musik umgeht, Arien auf Text folgen lässt, das wirkt wie eine große Verteidigung des Irrationalen in den Gefühlen. Diese Irrationalität hält den Abend zusammen, der einer Collage gleicht aus Modenschau und Bankett, Kammerspiel und Schlachtfest.

Solches ästhetische Unterlaufen symbolischer Ordnung hat Bieito in seinen Operninszenierungen den Ruf des Provokateurs eingehandelt. „Der weiße Ritter“ ist ein Kraftfeld, in dem vieles nachvollziehbar ist und Schuldfragen nebensächlich werden. Und vor allem ist der Eros eine Höllenfahrt, die Tirant am Ende vor die Videobilder einer Vulva führt. In Pedro Almodóvars Film „Sprich mit ihr“, der vor einigen Jahren in die Kinos kam, gab es eine ähnliche Szene: Ein daumengroßer Mann krabbelt zwischen die gespreizten Schenkel einer Frau und verschwindet im Fleisch. Gestrichen sind bei Bieito der Slapstick und der Witz. Die Szene wirkt bei ihm wie ein Alptraum vor der Pforte des Jüngsten Gerichts: kurz vor der Verdammnis, Erlösung nicht möglich. SIMONE KAEMPF

Heute um 19.30 Uhr im HAU 1