Das Bundesverfassungsgericht wurde missverstanden

RECHT 2014 hat Karlsruhe häufig elternfreundlich entschieden. Doch das war kein Signal, bedrohte Kinder in den Familien zu lassen

KARLSRUHE taz | Auffallend häufig hat das Bundesverfassungsgericht im Vorjahr zugunsten von Eltern entschieden, denen das Jugendamt die Kinder weggenommen hatte. Das sollte aber kein Signal an Jugendämter sein, akut bedrohte Kinder in den Familien zu lassen.

Rund hundert Verfassungsbeschwerden haben jährlich Erfolg. Im Vorjahr betrafen acht davon die Fremdunterbringung von Kindern. Eine ungewöhnliche Fülle, die auch in überregionalen Medien bemerkt wurde. Bei Jugendämtern und Familiengerichten kam die Botschaft an, künftig müsse das Elternrecht stärker gewichtet werden.

Die für Familienrecht zuständige Verfassungsrichterin Gabriele Britz hat inzwischen klargestellt, dass es im Jahr 2014 gar keine ungewöhnliche Häufung von elternfreundlichen Entscheidungen gab und auch der Maßstab nicht verschärft wurde. In der Fachzeitschrift Das Jugendamt wies Britz jetzt darauf hin, dass die Hälfte der erfolgreichen Klagen bereits 2013 einging und aus diversen Gründen erst 2014 entschieden wurde. Nur deshalb ergab sich eine scheinbare Ballung von erfolgreichen Verfassungsbeschwerden.

Zwar ist die Zahl der Elternklagen gegen die Wegnahme von Kindern tatsächlich angestiegen. Während es im Schnitt der letzten sechs Jahre jährlich 59 derartige Klagen gab, waren es im Vorjahr rund 70 und 2013 sogar 82. Diese Zunahme ist aber die Folge einer anderen Entwicklung. Denn auch die Zahl der staatlichen Inobhutnahmen von Kindern ist stark gestiegen – von 2008 bis 2013 um 31 Prozent auf nun 42.100 pro Jahr.

Auch die Erfolgsquote der Elternklagen beim Bundesverfassungsgericht stieg nicht an. Im Schnitt der letzten sechs Jahre hatten 6,6 Prozent der im jeweiligen Jahr eingelegten Verfassungsbeschwerden Erfolg. 2013 und 2014 waren es nur rund 5 Prozent. Das vermeintliche Signal aus Karlsruhe war also nur ein Missverständnis.

Dort konzentriert man sich weiterhin auf den Schutz von Familien, denen aufgrund nur vager Vermutungen vorschnell die Kinder weggenommen werden. Die Trennung von Kindern und Eltern ist als schwerster Eingriff in das Elternrecht laut Bundesverfassungsgericht nur zulässig, wenn bereits ein Schaden bei dem Kind eingetreten ist oder sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. Im Fall des toten Jungen aus Lenzkirch hätte Karlsruhe eine Inobhutnahme wegen der bereits festgestellten schweren Misshandlungen sicher nicht beanstandet. CHRISTIAN RATH