20.000 Heimkinder beantragen Entschädigung

DEMÜTIGUNG Mittel aus Fonds Heimerziehung West reichen nicht, kritisieren Betroffene

Kinder, die in Psychiatrien misshandelt wurden, fallen aus dem Raster

HAMBURG taz | Sie wurden gedemütigt, mit drakonischen Strafen erzogen und oft auch misshandelt: Kinder und Jugendliche, die in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik in ein Heim kamen. Viele der ehemaligen Heimkinder spüren bis heute die Folgen. Seit 2012 gibt es für sie die Möglichkeit, eine Art Entschädigung zu bekommen. Bis zum Jahreswechsel mussten sich die Betroffenen beim Fonds „Heimerziehung West“ registrieren. 19.567 Menschen haben das getan, wie das Bundesfamilienministerium auf Anfrage der taz erklärte.

Bund, Länder und Kirchen – die Träger vieler Heime – statteten den Fonds mit 120 Millionen Euro aus. Wer in der Zeit zwischen 1949 und 1975 in einem westdeutschen Erziehungsheim leben musste, konnte Hilfe beantragen. Schätzungsweise trifft das auf bis zu 800.000 Menschen zu. Bedingung für die Unterstützung: Die Betroffenen müssen einen physischen oder psychischen Schaden nachweisen können. Die Hilfe gibt es dann in Form von Sachleistungen und die Finanzierung von Therapien im Wert von bis zu 10.000 Euro pro Person. Ausgezahlt hingegen wird eine Entschädigung für Menschen, die als Heimkinder Zwangsarbeit leisten mussten. Einen ähnlichen Fonds gibt es auch für Menschen, die in Heimen in der ehemaligen DDR untergebracht waren.

Dirk Friedrich vom Verein der ehemaligen Heimkinder (VEH) nennt die Leistungen „Almosen“. Er wünscht sich eigentlich Entschädigungen in der Dimension von mindestens 50.000 Euro pro Person oder eine monatliche Opferrente. Der VEH hatte zu Beginn des Fonds zum Boykott aufgerufen. „Das war Unsinn“, sagt Friedrich heute – nicht weil er vom Fonds überzeugt ist, sondern weil es keine alternativen Entschädigungsformen gibt. Er kritisiert, dass es keine offensive Öffentlichkeitsarbeit des Fonds gegeben hat – zum Beispiel mit Zeitungsanzeigen. Friedrich befürchtet, dass viele Betroffene von dem Fonds nichts mitbekommen haben.

Der VEH hat auch praktische Kritik an dem Fonds: Friedrich berichtet von langen Wartezeiten auf ein erstes Beratungsgespräch, das nötig ist, um Leistungen zu bekommen – bis zu eineinhalb Jahre. Auf der Website des Fonds wird den Menschen, die sich registriert haben, versichert, dass sich in den nächsten Monaten die Beratungsstellen melden würden – um einen Termin zu vereinbaren.

Inzwischen gebe es oft Kürzungen, berichtet Friedrich. Allein bis Ende November 2014 gingen nach Angaben des Familienministeriums Anträge auf Leistungen in der Höhe von 127 Millionen Euro ein – „für schlüssig erklärt“ wurden am Ende allerdings nur Hilfen im Wert von 93,3 Millionen Euro. Es werde etwa geprüft, ob der Hilfebedarf plausibel und nachvollziehbar anhand eines Folgeschadens der Heimerziehung begründet wurde, erklärte das Ministerium.

Trotz Kürzungen ist es unwahrscheinlich, dass das Geld aus dem Fonds reichen wird. Bis Ende November waren nur etwa 10.000 Anträge bearbeitet. Die Geldgeber haben signalisiert, Mittel nachschießen zu wollen.

Bei den bisherigen Fonds fallen Menschen aus dem Raster, die in der Nachkriegszeit als Kinder und Jugendliche in Psychiatrien und Behinderteneinrichtungen untergebracht waren. Auch sie erlitten Misshandlungen und Demütigungen. Bundesregierung und Kirchen sind bereit, einen ähnlichen Fonds wie für die anderen Heimkinder aufzulegen. Doch die Bundesländer lehnen das ab. Sie wollen lieber Alternativen prüfen.

DANIEL KUMMETZ