Vielfältige Welten in steinernen Zelten

Carsten Schröck ist Norddeutschlands führender Visionär in Sachen „hängende Dächer“. Nicht alles, was sich der experimentierfreudige Bremer ausdachte, wurde auch gebaut, aber die Beton gewordenen Ideen gehören zu den spannendsten architektonischen Produkten der 50er und 60er Jahre

Die hochgotische Untere Halle des Bremer Rathauses bildet noch bis zum 17. Oktober den Rahmen für die Ausstellung mit Schröcks architektonischen Werken aus den 50er und 60er Jahren. Anschließend sind die Fotos, Pläne, Texttafeln und Modelle in der Kulturkirche St. Stephani zu sehen, deren Umgebung Schröck mit zahlreichen Bauten entscheidend geprägt hat – die Ausstellung wird dort am 23. Oktober um 18 Uhr eröffnet. Vom 18. Januar bis zum 16. Februar sind Schröcks Arbeiten im Künstlerdorf Fischerhude zu sehen, wo Schröck mit zahlreichen Wohnbauten einen „anti-tümelnden“ Regionalstil ausgebildet hat. Eine umfangreiche Publikation über Schröck – inklusive der vollständigen Werkliste – ist im Auftrag des Bremer Zentrums für Baukultur im Verlag Aschenbeck & Holstein erschienen.  HB

VON HENNING BLEYL

Wer in einer verregneten Hafenstadt geboren wird, den erwarten große Aufgaben. Als Architekt kann er zum Beispiel auf die Idee kommen, den kompletten Hafen zu überdachen. Dann müssen die Stauer nicht mehr beschäftigungslos herumstehen, wenn Güter wie Baumwolle und Tabak wegen der Witterung nicht entladen werden können. Carsten Schröck hat das Problem der enormen Bremer Wetterwartezeiten mit einem 585.000 Quadratmeter überspannenden Dach gelöst – auf dem Reißbrett. Aber selbst da sieht die 19-mastige Seilnetzkonstruktion ziemlich beeindruckend aus.

Mit Schröck wird derzeit Bremens wichtigster Nachkriegsarchitekt ein wenig wiederentdeckt. Dafür gibt es keinen besonderen Anlass, der Mann ist 1923 geboren und starb 1973: Nichts rundet oder jährt sich. Aber Schröcks Entwürfe, die gebauten wie die ungebauten, lohnen allemal das nähere Hingucken. Diese Aufgabe hat jetzt das vor wenigen Jahren gegründete „Bremer Zentrum für Baukultur“ (b.zb) übernommen und erstmals ein Werkverzeichnis Schröcks erarbeitet.

Das Hafenprojekt scheiterte keineswegs an den Tücken der Statik. Sondern am Siegeszug des Containers: Stückgut wurde zum Nebengeschäft. Das Prinzip kam trotzdem zur Anwendung: Frei Otto nutzte es 1972 für die Überdachung des Münchner Olympiastadions. Schröcks Brötchen waren etwas kleiner, aber immerhin konnte er 1961 die weltweit erste Seilnetz-Druckbogenkonstruktion bauen: die St. Lukas-Kirche in Grolland. An zwei elliptisch angeordneten Leimholz-Bögen hängt ein Drahtseilnetz mit ein Meter breiten Maschen. Noch heute vermittelt der zeltartige Bau Luftigkeit wie auch bauchige Geborgenheit. Selbst die – beweglichen – Wände bestehen aus Netzen.

Bei den Diskussionen im Vorfeld musste der Architekt das morastige Baugelände argumentativ bemühen, um dem Gemeinderat die experimentelle Leichtbauweise schmackhaft zu machen. Doch schon bald nach der Fertigstellung adapierten die AnwohnerInnen das Werk als ihre „Auster“. Auch statisch bewährte sie sich: Während die große, „schwangere“ Berliner Schwester – eine Stahlbetonkonstruktion von Hugh Stubbins – zum Teil einstürzte, blieb die Lukaskirche ohne Veränderung funktionstüchtig. Und steht seit 1993 unter Denkmalschutz – bemerkenswert früh für einen Sechziger-Jahre-Bau.

Schröck gehört zu der ersten deutschen Architektengeneration, die nach dem Weltkrieg ausgebildet wurde – und die hatte es oft schwer, sich gegen ihre traditionsorientierten älteren Kollegen durchzusetzen. Insbesondere in Bremen haftete „den Gestaltungstendenzen ein konservativer Zug“ an, wie die Bauwelt 1958 bemerkte. Als Selbstbestätigung gegenüber den „Betonköpfen“, was damals freilich noch kein Schimpfwort sein konnte, bildete sich in Bremen der „Zementring“. Schröck war allerdings der Einzige, der es dank seiner Dachexperimente zu überregionaler Bekanntheit brachte. Auch in Afrika projektierte Schröck Seilnetzkirchen, die – in Gegensatz zu einigen Seemannsheimen und anderen Gebäuden im Auftrag der „Norddeutschen Missionsgesellschaft“ – jedoch nicht zur Ausführung kamen.

Im nordwestlichen Deutschland hingegen erarbeite sich Schröck den Ruf des wichtigsten zeitgenössischen Sakralarchitekten. Seine Kirchen und Gemeindezentren gelten noch heute als ebenso funktional wie identifikationsstiftend. Gemeindepastoren, KindergärtnerInnen und Wohnheimbetreiber versichern, wie „pflegeleicht“ der großflächig, oft in Kombination mit Holz verwendete Sichtbeton sei, und wie wohl sie sich als NutzerInnen der vierten Generation dort immer noch fühlen. Fachmännisch ausgedrückt: Schröck entwickelte „eine eher poetische als pathetische Moderne“, formuliert Eberhard Syring, wissenschaftlicher Leiter des b.zb. An Schröck schätzt er, dass sich dieser gleichermaßen dem utopischen Gehalt wie der sozialen Relevanz – man könnte auch sagen: Brauchbarkeit – seiner Bauten verpflichtet gefühlt habe. Schröcks Tagebücher, vor allem aus Afrika, bestätigen das: Der Architekt reflektiert intensiv die sozialen und klimatischen Baugrundlagen. Dass man das so nachlesen kann, ist wiederum Syring zu verdanken. Er hat die gesamte Familie des Architekten samt ihrer Archivalien in sein Schröck-Projekt eingespannt.

Eine wesentlicher Teil des „humanen“ Charakters der Schröck-Bauten ist ihre Leichtigkeit. Wie andere Zeitgenossen auch suchte Schröck sie unter anderem in biomorphen Formen – allerdings mit größerer Konsequenz. Zusammen mit Frei Otto, vergangenes Jahr mit dem als „Nobelpreis der Künste“ bezeichneten „Praemium Imperiale“ ausgezeichnet, experimentierte er sogar mit Seifenlauge und Drahtgestellen, um die optimale Oberflächenspannung schalenförmiger Dachelemente zu erkunden.

Schröck profitierte indirekt vom Wohnbau-Boom: In den neue Siedlungsgebieten wurden Kirchen gebraucht. Ebenso wichtig für Schröcks Auftragslage ist eine Bremer Besonderheit: die Selbständigkeit der Gemeinden, auch bei Bauentscheidungen. Hätte eine Kirchenleitung diesbezüglich das Sagen, wären einige der Schröck’schen Experimente vermutlich Schubladenfüller geworden. So aber traf Schröck oftmals auf neuerungswillige Pastoren, die gerade in den Reißbrettsiedlungen einen Kontrapunkt setzen wollten.

Bestes Beispiel ist das Dietrich-Bonhoeffer-Zentrum in Huchting. Nicht nur das Tragwerk erregte wieder Aufsehen – im Rohzustand ähnelte es einem riesigen, zum Trocknen aufgehängten Fischernetz –, sondern auch die so ausgedrückte sozial-spirituelle Konzeption. Statt eines reinen Sakralraums beherbergt das Zeltdach eine Art „Marktplatz“: Hier kann sowohl Gottesdienst als auch „normale“ Gemeindearbeit stattfinden. Am tiefsten Punkt steht die Kanzel, die ansteigenden Sitzreihen vermitteln den Eindruck eines Diskussionsforums.

Als Schröck starb, kam der experimentelle Leichtbau außer Mode. Syring sieht in der pneumatischen Architektur, wie sie Herzog & de Meuron bei der Münchener Allianz-Arena verwirklichen, eine gewisse Wiederaufnahme dieser Ideen – die auch in Hinblick auf ressourcenschonendes Bauen fruchtbar sein könnten. Ein Unterschied zu Schröcks stabil-flexiblen Netzkonstruktionen sticht allerdings ins Auge: In München muss ständig nachgepumpt werden.