Obst klingt mikrotonal

Das Ensemble Modern Orchestra unter Pierre Boulez führte am Mittwoch vor, wie spannend zeitgenössische Musik sein kann – und wie aktuell das 20. Jahrhundert

Wie alt ist die Musik der klassischen Moderne? Es kommt ganz darauf an, wer sie spielt. Bei dem französischen Komponisten und Dirigenten Pierre Boulez und dem Ensemble Modern Orchestra klingt auch Musik aus den Zwanzigern frisch und ganz nach heute, wie man am Mittwoch im Konzerthaus miterleben konnte.

Das Ensemble Modern Orchestra, im Jahr 1998 gegründet, ist das erste Orchester der Welt, das ausschließlich Kompositionen des 20. und 21. Jahrhunderts spielt. Es setzt sich aus den siebzehn Mitgliedern des Frankfurter Ensemble Modern zusammen, die je nach Bedarf auf ein Netzwerk aus jungen Musikern und Experten für Neue Musik zurückgreifen. An diesem Abend gab es neben Werken von jüngeren zeitgenössischen deutschen und französischen Komponisten sowohl Orchestermusik von Boulez selbst als auch Edgar Varèses Klassiker „Amériques“ zu hören.

In Varèses erstem erhaltenen Werk aus dem Jahre 1921, das in der Fassung von 1929 aufgeführt wurde, scheint es keine Entwicklung zu geben, sondern nur den Wechsel von ruhigen und sehr, sehr lauten Passagen. Immer wieder bricht das Orchester in mehrfachem Forte aus, Sirenen heulen, und die emotionale Wucht dieses Klangapparats, dessen Schlagzeug elfköpfig besetzt ist, lässt Strawinskys „Sacre du Printemps“ ziemlich zahm erscheinen. Die von Boulez und dem Ensemble Modern Orchestra fein herausgearbeiteten Nuancen der lyrisch-impressionistischen Elemente machten den Kontrast nur noch schärfer. Die Klanggewalt dieser Musik kann es locker mit einem extremen Stil wie Black Metal aufnehmen, ist dabei aber ungleich subtiler.

So bedingungslos überwältigen wie Varèse wollte denn auch keiner der übrigen Komponisten aus dem Programm. Mit „.auf.II“ des Franzosen Mark Andre, einem Schüler Helmut Lachenmanns, erklang zu Beginn eine feinsinnig strukturierte Komposition aus Klängen und Geräuschen, die einander in einer Umgebung mit viel Stille begegnen. Wie klingt Obst? Diese Frage konnte der im Jahr 1969 geborene Komponist Enno Poppe mit seinem gleichnamigen Werk nicht beantworten, doch das war auch nicht seine Absicht. Poppe, der seine Kompositionen nach konkreten Dingen wie „Holz“ oder „Knochen“ benennt, greift in seiner Kompositionsweise oft Strukturmerkmale der titelgebenden Phänomene auf. Beim Obst dachte er lediglich an die einzelnen Objekte, die in einer Obstschale zu finden sind. So besteht seine kurze Komposition aus vier in sich geschlossenen Einzelsätzen. Besonders beeindruckten dabei die mikrotonalen Strukturen im zweiten Satz. Hier demonstriert Poppe mit Intervallen außerhalb der üblichen Zwölftonskala, dass Tonhöhen nichts Statisches sein müssen, sondern sich auch schrittweise „verschieben“ lassen.

Dass ausgerechnet der deutsche Shooting Star seiner Generation, der um zwei Jahre jüngere Komponist Matthias Pintscher, das schwächste Stück des Abends präsentierte, war enttäuschend. „Towards Osiris“, eine Vorstudie zu einem größeren Werk, konnte schon bei der Uraufführung unter Simon Rattle im vergangenen Jahr nicht überzeugen und wirkte auch diesmal im Vergleich zu den anderen Kompositionen in seiner Klangsprache überholt.

Es war schließlich Boulez selbst, der mit seinen „Notations für Orchester“ für ein fulminantes Finale sorgte. Der Komponist führte zwar kein neues Werk vor, sondern eine über Jahrzehnte hinweg immer wieder revidierte serielle Komposition, deren Ursprungsmaterial aus dem Jahre 1945 stammt. Doch die kurzen, expressiven Stücke konnten vor allem in der zum Abschluss erklingenden Nr. II mit ihrer komplexen und zugleich mitreißenden Rhythmik ihre hochartifizielle Konstruktion vergessen lassen und begeisterten das Publikum so sehr, dass es gleich noch einmal eine Zugabe des Finales gab. Schön, dass das 20. Jahrhundert doch noch nicht vorbei ist.

TIM CASPAR BOEHME