Amerika verstehen

Der Schriftsteller und Ex-Wall-Street-Anwalt Louis Auchincloss hat einen eleganten Roman über die Ostküsten-Oberschicht geschrieben

Bruce Carnochan ist ein Dandy. Wenn er nicht zu depressiv ist, verbringt er seine Tage mit Müßiggang. Anders als sein Bruder Wallace besitzt Bruce kein unternehmerisches Geschick. Doch ausgerechnet sein geschäftliche Ehrgeiz ist es, der einen Carnochan erst zu einem Carnochan macht. Zumindest ist das der Ehrenkodex der Familie.

In seinem neuen Roman, „East Side Story“, schreibt der 1917 in Lawrence, New York geborene Louis Stanton Auchincloss die Saga dieser semifiktionalen presbyterianischen Familie über mehrere Generationen und erzählt somit wie nebenbei die Geschichte der USA vom Amerikanischen Bürgerkrieg bis Vietnam. Die Carnochans, schottische Auswanderer, haben sich an der Ostküste der Vereinigten Staaten über ein Jahrhundert zu einer wohlhabenden und einflussreichen Patrizierdynastie entwickelt.

Der ehemalige Wallstreet-Anwalt Auchincloss weiß, wovon er redet, wenn er die Geschichte des New Yorker Geldadels schildert. Als Spross der alten Elite entstammt er selbst dem Börsianer- und Anwaltsmilieu, er kennt es wie seine Westentasche. Seit über 50 Jahren schreibt er die Chronik der alten Ostküstenaristokratie und hat bis heute um die sechzig Bücher publiziert: Romane, Erzählbände, Biografien und Essays sowie seine Autobiografie. Sein scharfer, zuweilen auch bissig kritischer Blick hinter die Fassaden der amerikanischen Upperclass ist aber weit mehr als eine bloße Chronik und Sammlung anekdotischer Episoden. Auchincloss versetzt den Leser gekonnt in seine Welt. Er schreibt einen eleganten Stil und sprüht vor Geist. „Mutter, da übertreibst du wieder einmal: Ich bin nicht so attraktiv, wie du meinst. In der Welt, in der ich mich bewege, bin ich nur ein ganz kleiner Schmetterling. Nicht viele der ‚Schönheiten‘, wie du sie nennst, sind darauf aus, mich für ihre Sammlung aufzuspießen.“

Wallace und Bruce gehören zur zweiten beschriebenen Generation der Familie, in der bestimmte Stereotype immer wieder auftauchen, allen voran der ehrgeizige, erfolgreiche Geschäftsmann und Anwalt, aber auch das klassische schwarze Schaf, der Taugenichts. Interessanterweise kann man fast mit Sicherheit davon ausgehen, das ein tüchtiger Vater einen untüchtigen Sohn bekommt und vice versa. Auchincloss verfügt neben der tief greifenden soziologischen Kenntnis seiner Umgebung über ein ausgeprägtes Gespür für die Psychologie seiner Figuren. Seine Schilderungen der siechen Estelle, des Opportunisten Gordon oder des willensstarken David erinnern an Thomas Mann. Würde er eine reine Verfallsgeschichte schreiben, man könnte seinen Roman die „Buddenbrooks der Ostküste“ nennen. Aber Aufstieg und Fall wechseln beständig: „Wenn man unten ist, muss man vernünftigerweise versuchen, wieder hochzukommen.“ Bezüglich der Mentalität vielleicht ein charakteristischer Unterschied zu Europa. Die Spannung des Buches entsteht durch das üppige Panorama. Man wird Teil der Familie, Teil der Szenerie zwischen Rockefeller, Harvard und Börsencrash. TOBIAS SCHWARTZ

Louis Auchincloss: „East Side Story“. Aus dem Englischen von Karl A. Klewer. Dumont, Köln 2007, 288 Seiten, 19,90 Euro