Die tödliche Familie

THEATER Am Deutschen Theater zeigt Stephan Kimmig Eugene O’Neills „Trauer muss Elektra tragen“ als kühl reduzierte Versuchsanordnung

Schön am Theater ist, dass man es dort anders machen kann. Anders als im wirklichen Leben lässt sich ohne Umschweife das Unterste nach oben kehren

VON KATHARINA GRANZIN

Ein kompromissloser Guckkasten ist die Bühne. Perspektivisch nach hinten verengt, bietet sie den Akteuren nur dort zu beiden Seiten einen Auf- und Abgang. Der Rest sind fensterlose Wände, schmucklos grau wie im Affenhaus, hier und da gesprenkelt mit kaum wahrnehmbaren Klecksen von Silber- oder Goldfarbe, traurigen Überresten einstigen Glanzes. An allen drei Wänden ist eine Sitzstange befestigt. Auch das erinnert eher an ein Gehege als ein Zuhause. Sich hier niederlassen möchte man lieber nur im Notfall.

Als Eugene O’Neill in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts „Trauer muss Elektra tragen“ schrieb, basierend auf dem antiken Elektra-Stoff und der Orestie des Aischylos, war die Psychoanalyse schon lange Allgemeingut. Der Hang ihrer Protagonisten zur Analogführung psychischer Verfasstheiten mit antiken Mythen muss einen psychologisch orientierten Dramatiker wie O’Neill unwiderstehlich angezogen haben. Seine Fassung des antiken Stoffes greift offen auf Topoi der Psychoanalyse zurück. Weder Götter noch Schicksal, wie weiland bei Aischylos, bringen das Leben seiner Figuren schrecklich durcheinander, sondern allein das, was in ihrem tiefen Inneren brodelt und so tabubehaftet ist, dass es meist nicht offen zutage tritt. Schön am Theater ist, dass man es dort anders machen kann. Anders als im wirklichen Leben lässt sich ohne Umschweife das Unterste nach oben kehren.

Das ist in etwa die Vorgehensweise, die O’Neill seinen Figuren angedeihen lässt. In zerstörerisch-inzestuösen Haltungen lehnen sie sich gegeneinander. Die Tochter begehrt den Vater, der Sohn die Mutter, die Geschwister begehren einander, und der Liebhaber der Mutter ist ein Neffe ihres Mannes. Dass das alles höchst problematisch ist, lässt sich daran erkennen, dass es am Schluss nur eine Überlebende gibt: Elektra, nein, Lavinia, wie sie hier heißt, Tochter eines Offiziers, die den Vater so sehr liebt, wie sie die Mutter hasst.

O’Neill verlegt die Handlung in die Zeit kurz nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg – nicht weil die Zeit der Handlung bedeutungsvoll wäre, sondern weil die Historisierung ihre Zeitlosigkeit unterstreicht. Stephan Kimmig folgt für seine Inszenierung dem Dramatiker in diesem Detail und verpasst den DarstellerInnen historisierende Kostüme, wobei die Reifröcke einerseits an Bürgerkriegsfilme erinnern, andererseits aber so flexibel hochgeschoben werden können, dass sie allein dadurch als Zitat enttarnt sind. Maren Eggert spielt Lavinia in einem schwarzen Kleid. Friederike Kammer spielt ihre Mutter Christine in einem grünen Kleid und beeindruckt mit einer Palette von Gefühlsverschiebungen zwischen leidenschaftlicher Hingabe und intriganter Weinerlichkeit.

Maren Eggert hat es da schwerer. Ihre Lavinia wandelt, wie die dramatische Vorlage es verlangt, mehrfach ihre Persönlichkeit und bleibt dadurch bis zum Schluss auf unheimliche Weise ungreifbar. Deutlich einfacher gestrickt ist Bruder Orin, der, an Körper und Geist versehrt, aus dem Krieg heimkehrt und von Alexander Khuon als ein ungesteuert seinen Gefühlen ausgelieferter Jüngling dargestellt wird. Zum Teil gelingt das anrührender, als die Inszenierung nahelegen würde.

Stephan Kimmig hat das Stück nicht nur aller Redundanzen entkleidet, sondern verzichtet weitgehend sogar auf dramatische Wendungen in Dialog und Handlung. Leidenschaften brechen ostentativ plötzlich aus, als würde zuvor ein wichtiges Stück Dialog fehlen, das die innere Entwicklung einer Person hätte kenntlich machen können. Tode werden nur symbolisch und dabei äußerst lapidar dargestellt. Es gibt keine umherrollenden Giftdöschen, keine plötzlichen Ohnmachten, nur die gefasste äußere Gleichgültigkeit der Überlebenden.

Es ist ein konsequentes Zeigetheater, das Kimmig in den Guckkasten bringt, eine Art Versuchsaufbau, der das Handeln der Figuren ausstellt wie die Interaktion zwischen Angehörigen einer exotischen Spezies. Immer wieder geht das Licht aus zwischen Miniszenen, in denen es nicht einmal Dialog geben muss, die vor allem Figurenkonstellationen zeigen: Mutter und Tochter, in Hassliebe einander zugewandt. Zwei küssende Paare an zwei Wänden. Schwester und Bruder, nebeneinander stehend, während er sich erschießt. Harter Stoff, hart verschnitten. Ja, es ist ein überzeugend umgesetztes dramatisches Konzept. Aber da wir als Zuschauer ja ganz außerhalb des Guckkastens bleiben, geht uns diese Versuchsanordnung zum Glück gar nichts an. So rein persönlich.

■ Nächste Vorstellungen: 22. 10., 20 Uhr, 27. 10., 20.30 Uhr