In Schönheit sterben

Jeder Melodiebogen muss einmal um die Ecke: Rufus Wainwright beendet sein Konzert in der Volksbühne als Judy Garland. Und wirft damit den allzu schönen Kunstliedern etwas Pfeffer hinterher

VON CHRISTIANE RÖSINGER

Am Freitagabend gab sich der allzu talentierte Mr. Wainwright wieder einmal die Ehre und trat in der seit Wochen ausverkauften Volksbühne auf. Das kanadische Wunderkind ist recht umtriebig: Die Tour zur aktuellen CD „Release the Stars“ führt ihn durch mehrere Kontinente, nebenbei schreibt er an seiner ersten Oper, steuert Songs zu allen möglichen Hollywoodfilmen bei und feiert in New York Erfolge mit seiner Judy-Garland-Show. In all seiner dandyhaften Pracht und Herrlichkeit und Camp Glory kam er überpünktlich auf die Bühne, im weißen Las-Vegas-Show-Anzug, strahlend, kokett, von seiner eigenen Goldigkeit maßlos überzeugt.

Prominenz aus dem alternativen Mainstream war gekommen, um ihn zu hören: Die schwule Sektion der Lindenstraße, also Dr. Carsten Flöter und Lebensgefährte Käthe, war da nebst dem Quatsch Comedy Club, aber auch Exumweltminister Trittin alias DJ Dosenpfand wurde gesichtet. Auf den Treppen kauerten die ergebenen Zuschauer, von den zur Feier des Tages in dunkles Zwirn gekleideten Sicherheitskräften immer wieder ermahnt, die Fluchtwege freizuhalten. Die Bühnenrückwand zierte eine große amerikanische Flagge, auch die Musiker trugen Glitzersterne und Streifen, was ihnen wiederum das Aussehen von entlaufenen Sträflingen verlieh.

Sieben Musiker samt dreiköpfiger Bläsertruppe hat man sich geleistet. Da wird alles aufgefahren, was die Welt der Blas-, Saiten- und Percussioninstrumente so zu bieten hat: Waldhorn, Trompete, Saxofon, Querflöte, akustische und elektrische Gitarren, Cello, Kontrabass, Banjo, ein Flügel, das Schlagzeug. Sämtliche Stücke der neuen CD kommen zur Aufführung, das beschwingte „Tiergarten“, das muntere „Between my legs“, das erfrischend verbitterte „Do I disappoint you?“. Bei all dem Melodienüberschwang ist es eine kleine Erholung, wenn sich Wainwright an den Flügel setzt und mal eine gerade, traurige Linie singt: „I’m so tired of you, America“. Denn das Dauervibrato in der wunderschönen Stimme, die überorchestrierten Stücke, das ermüdet doch.

Nach der Pause kehrt Wainwright – umjubelt – in Lederhosen zurück, und der informierte Fan weiß: Das letzte Album wurde in Deutschland aufgenommen, weil sich der Sänger wie einst David Bowie und Lou Reed vom dunklen, düsteren Berlin inspirieren lassen wollte, um musikalisch spröder, einfacher zu werden. Aber es kam anders. Wainwright entdeckte Sans Soucis, das Potsdamer Rokoko, die Bratwurst und die Lederhose.

Weiter winden, schrauben sich die Melodien in immer neue Verstiegenheiten. Die Bläser fahren und funken bei jeder passenden Gelegenheit dazwischen, jeder aufsteigende Melodiebogen muss unerwartet ins Disharmonische geschickt werden, muss fast umkippen, bis er sich in letzter Sekunde doch noch aufs erhabenste auflösen kann. In Schönheit sterben wollen diese Melodien, wollen Wagner, Strauss und Verdi gleichzeitig zitieren, sind genial arrangiert, schwelgerisch, traurig, zuckersüß, überladen und doch irgendwie leer. Das sind Kunstlieder, keine Popsongs. Um so schlimmer ist es aber, wenn sich in all die Schönheit dann ein erschreckend geschmackloses Gitarrensolo verirrt!

Nach einem langen zweiten Teil kommt der begnadete Musikerdandy in weißem Frottee zurück. „Oh nein!“ will man innerlich aufstöhnen, aber der kanadische Songwriter kann ja nix dafür, dass man hierzulande bei der Rückkehr an den Flügel im Bademantel grundsätzlich an Udo Jürgens denken muss. Aber Rufus ist zum Glück nicht Udo, und so kriegt der Abend noch einmal die Kurve, noch mal einen ganz anderen Dreh. Denn es folgt die Verwandlung: Da werden Klunker angelegt, wird Lippenstift aufgetragen, da stehen die Pumps bereit, und dann steht die Dragversion von Judy Garland da, mit kokettem Hütchen und ganz erstaunlichen, perfekten Beinen unter der kurzen Kostümjacke. Garlands „Come on get happy“ ertönt vom Band, und die wiedererstandene Garland singt auf der Bühne mit, tanzt und dreht sich dabei und wirft die Beine.

Die Musiker, nun auch in schwarzen Anzügen, werden zu Hüte schwingenden, Purzelbaum schlagenden Varietétänzern, umringen in unbeholfenen Luftsprüngen Rufus, die Göttliche. Und auch im Zuschauerraum springt man vor Begeisterung aus den Sitzen, alles ist gut und herrlich, und Rufus Wainwright ist doch immer noch fast der Beste.