„Der Kreuzberg ist mein Lieblingsberg“

DER ALPINIST Eigentlich will Walter Welzel die Berliner Hügelchen gar nicht als Berge durchgehen lassen, auch wenn für ihn ein mächtiger Berg nicht unbedingt hoch sein muss. Am liebsten ist der Vorsitzende der Berliner Sektion des Deutschen Alpenvereins im Allgäu unterwegs – und hat er Heimweh nach dem Gebirge, isst er einfach Bergkäse

■ Der Mann: Walter Welzel (55) hat Architektur studiert und sich als Diplomingenieur auf Bauplanung spezialisiert. Der gebürtige Ostwestfale zog Anfang der 80er Jahre nach Berlin. Seit 2006 engagiert er sich beim Deutschen Alpenverein (DAV), seit 2013 ist er Vorsitzender der Berliner Sektion.

■ Der Verein: Gegründet wurde die Berliner Sektion des DAV 1869. Die sechs Berghütten, die die Berliner betreuen, liegen in Österreich, im Zillertal und im Ötztal. Das 2013 eröffnete Kletterzentrum des DAV liegt hinterm Hauptbahnhof in der Seydlitzstraße 1H. www.dav-berlin.de

■ Die Alpen: Die Berliner Spitze (auch bekannt als III. Hornspitze) liegt in Tirol, kurz vor der Grenze nach Italien. Von der Kletterhalle am Hauptbahnhof ist sie etwa 750 Kilometer entfernt. Wer hinwandern will, braucht 150 Stunden, muss aber dafür laut Routenplaner auf der B15 laufen. Auf dem Weg nach oben nimmt man dann den „Berliner Höhenweg“ an der Berliner Hütte vorbei.

INTERVIEW ANNE HAEMING
FOTOS MIGUEL LOPES

taz: Herr Welzel, es ist mitten im Winter – warum sind Sie eigentlich in Berlin und nicht in den Alpen?

Walter Welzel: Ich komme ganz klassisch vom Bergwandern, jetzt geht das natürlich noch nicht. Ich bin eher im Sommer unterwegs, die Saison dauert ja nur von Mitte Juni bis maximal Ende September. Aber Bergsport kann eben vieles sein und spricht unterschiedliche Leute an – die anderen gehen dann eben Skifahren. Seit 10, 15 Jahren boomt Bergsport wieder, in Berlin sogar noch stärker als im Rest des Landes.

Woher kommt das?

Weil es inzwischen zum Leben dazugehört, dass ich etwas in der Hand halte, auf dem ich mit zwei Fingern rumtippe. Durch die Digitalisierung. Die Menschen suchen den Kontrast zum Alltag, deswegen verwundert es auch nicht weiter, dass gerade viele junge Leute im Deutschen Alpenverein sind.

Wir befinden uns hier auf durchschnittlich 35 Meter Höhe über Normalnull. Was, bitte, hat Berlin denn mit den Alpen zu tun?

Da muss man ein wenig zurückschauen: Die Berliner DAV-Sektion feiert in wenigen Jahren ihr 150-jähriges Bestehen. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es auf einmal die Möglichkeit für bestimmte Klassen, zu reisen, auch über größere Strecken, das wurde vor allem für Großbürgerliche und Beamte interessant. Die Zugverbindung Berlin–Berchtesgaden startete 1860. Und die Alpen waren eben weit weg, völlig unbekannt, man kannte das nicht. Sie hatten einen Status etwa wie der Mond in den 1960er Jahren. Das Ziel war, Natur zu entdecken und zu erleben. Das Spannende ist: Daran hat sich in all der Zeit kaum etwas geändert: Seit 20 Jahren ist der DAV auch ein Naturschutzverein, Bergsport ist eben etwas für Explorer, die Lust haben, neue Wege zu gehen.

Viele Sektionen des DAV betreiben eigene Hütten in den Alpen. Die der Berliner stehen in Österreich. Wieso denn ausgerechnet dort?

Zu Beginn der Alpenvereinsgeschichte gab es den Deutschen und Österreichischen Alpenverein, den DÖAV. Dadurch fielen auch Arbeitsgebiete in den österreichischen Alpen an deutsche Sektionen. Die Berliner engagierten sich im Zillertal und im Ötztal. In jedem Gebiet haben wir drei Häuser, darunter auch die Berliner Hütte. Am Anfang wurden Urhütten erstellt, sie waren kaum größer als Datschen, die mit der Zeit erweitert wurden. In einem Rutsch ging keiner den Berg rauf, also brauchte man Zwischenstationen – die Hütten. Und dazwischen Wege. Man muss wissen: Die letzte Erstbesteigung in den Alpen gab es ja erst 1872. Bis dahin hatte jeder Trip in die Alpen Expeditionscharakter, davon wollte man weg.

Und was ist der Job der Berliner? Wegmarkierungen malen?

Auch. Die Wege gehören zwar überwiegend zum Gebiet der Österreichischen Bundesforste, aber die Pflege fällt in unseren Aufgabenbereich. Die Grundstücke, auf denen die Hütten stehen, gehören unserer Sektion, die wurden damals gekauft. Jedes Jahr melden sich 5 bis 15 Mitglieder pro Hütte zu einem Arbeitseinsatz an und gehen für ein bis drei Wochen auf die Hütten und übernehmen die notwendigen Instandhaltungsarbeiten, reparieren Fassaden, streichen, alles ehrenamtlich.

Einer der Berge dort in den Zillertaler Alpen heißt Berliner Spitze. Waren Sie schon mal dort oben?

Nein.

Echt? Das war eigentlich als rhetorische Frage gemeint. Wieso denn nicht?

Für Besteigungen bleibt während der Arbeitseinsätze wenig Zeit. Wenn man da über Jahre zweimal im Jahr wie ich als Hüttenwart hinfährt, hat das alles andere als Ausflugscharakter. Die Hütten im Zillertal kenne ich sehr gut – was die Berge angeht, sieht’s eher bescheiden aus.

Na dann: Was sehe ich, wenn ich vor der Berliner Hütte stehe?

Da sind verschiedene Berge auf der einen Seite eines Kamms, wo der Berliner Höhenweg zum Furtschaglhaus führt, auch eine unserer Hütten. Darunter die Hornspitze, Berliner Spitze genannt. Vor 25 Jahren war ich zum ersten Mal in der Berliner Hütte. Auf den Karten von damals ist da noch sehr viel Gletscher eingezeichnet. Seither hat sich die Landschaft sehr verändert. Ursprünglich reichten die Gletscherzungen direkt bis an die Hütte heran. Das war der erste Kühlschrank. Der Rückzug der Gletscher ist erheblich, das muss man ganz deutlich sagen.

Wann waren Sie denn zum ersten Mal in den Alpen?

Relativ früh, Anfang des Studiums.

Das finden Sie früh?

Ich bin in Ostwestfalen aufgewachsen, die Alpen waren weit weg, es war ein Aufwand, dorthin zu kommen. Anfang der 1980er kam ich zum Studium nach Berlin, und damals bin ich zum ersten Mal in die Karpaten und dann in die Alpen, nach Österreich. Zu zweit haben wir den Dobratsch, einen Zweitausender, bestiegen. Das war jetzt keine großartige alpinistische Erfahrung, aber eben meine erste Tour überhaupt. Wir sind an einer Seite des Berges mit großem Aufwand und unter sehr schwierigen Witterungsverhältnissen hoch – nur um dann festzustellen: Karten lesen können ist auch wichtig. Denn oben standen schon jede Menge anderer Leute. Sie waren einfach die Straße auf der anderen Seite des Bergs hochgefahren.

Karten lesen, Wetter einschätzen: Was muss ich noch wissen in den Bergen?

Im Allgäu gibt es einen Berg, der symptomatisch ist für meine Sicht auf diesen Sport: die Höfats, 2.200 Meter hoch. Das ist nicht sonderlich spektakulär, auf der Höhe liegen gerade mal unsere Hütten im Zillertal. Die Höfats ist einer der lieblichsten Berge weit und breit: ein Grasberg, Blumen ohne Ende, die anderswo gar nicht gedeihen, viele Edelweißkolonien.

Hübsch!

Ja, vom Nachbarberg aus denkt man: Och, da hoch, das ist was Schönes fürs Wochenende! Das Gegenteil ist der Fall: In den letzten hundert Jahren ist dort durchschnittlich jedes Jahr ein Wanderer tödlich verunglückt. Dieser harmlos wirkende Berg ist gefährlich ohne Ende. Er ist der einzige in der ganzen Gegend dort, den ich noch nie im Leben bestiegen habe.

Ab wann ist ein Berg denn ein Berg?

Die Höfats sieht jedenfalls eher wie ein Hügel aus. Zu sagen, ein Berg muss mindestens x Meter oder Schwierigkeitsgrad y haben, bringt auch nichts. Es gibt selbst im Mittelgebirge Berge, die sehr anspruchsvoll sind. Aber wenn man nach Berlin schaut, was hier alles Berg heißt …

ist ein Witz.

Für mich würde es den Tatbestand „Berg“ jedenfalls nicht erfüllen.

Okay, ein paar Testfragen. Wie hoch ist der Prenzlauer Berg?

Keine Ahnung.

91 Meter. Und der Teufelsberg?

Der ist natürlich deutlich höher. Der ist, glaube ich, schon dreistellig. 112?

Fast – 115 Meter. Nächster: der Kreuzberg?

Das ist mein Lieblingsberg. Der ist über 60 Meter hoch. Also eigentlich mehr ein Hügel. Trotzdem ist es ein besonderer Ort, da man von hier aus Berlin als Stadtlandschaft wahrnehmen kann.

Bei diesen Höhenlagen wie dem Kreuzberg sind die meisten Berliner eben echte Flachlandtiroler. Welches Grundmissverständnis von echtem Gebirge begegnet Ihnen am häufigsten?

Die Hüttenwirte erzählen uns, dass immer häufiger Menschen in den Berg gehen, die keinen entsprechenden Wissensbackground haben. Ihnen fehlt die richtige Vorstellung davon, was sie über Wetter, Gefahren, Sicherung wissen sollten, für die Tour, die sie vorhaben. Man setzt sich eben nicht einfach ins Auto und fährt 800 Kilometer in die Alpen. Man sollte sich vorbereiten, sich zum Beispiel von den Tourenberatern des DAV beraten lassen. Die Nachfrage ist da: In der Berliner Sektion haben wir sogar zweistellige Zuwachsraten, mehr als im Rest des Landes. Momentan haben wir 14.000 Mitglieder.

Früher hat der DAV in Berlin offenbar auch in der Politik mal eine größere Rolle gespielt: Zur Einweihung des Berliner Höhenwegs in den Alpen 1976 kam immerhin der damalige Regierende Klaus Schütz – auch wenn er, so die Legende, wegen Fraktionskrach auf halbem Weg samt Rucksack wieder umdrehen musste. Wieso hat der Verein hier Bedeutung verloren?

Sport und Politik sind heute nicht mehr so eng verbunden. Gut, Manfred Stolpe war schon auf dem Brandenburger Haus zu Besuch. Und Walter Momper hat unsere Kletterhalle hier eingeweiht. Er sagte, als er die Kletterer an der Wand sah: Das erinnert mich an die Zeit, als ich als Kind auf den Berliner Trümmerbergen der Nachkriegszeit herumgeklettert bin.

In dieser Halle sitzen wir gerade. Die hat sich der Verein vor zwei Jahren für 2,5 Millionen Euro gebaut, inklusive Boulderanlage, also Klettern ohne Seil. Davon gibt es mittlerweile immer mehr in der Stadt. Ist das denn eine echte Alternative?

Es ist ja nicht so, dass die neuen Mitglieder nur wegen des Kletterns eintreten. Die meisten wollen immer noch in die Berge, wandern. Bei den Kletterern gibt es zwei Fraktionen: die reinen Indoorkletterer, das ist was Neues; und die klassischen Felskletterer. Berlin ist auch eine Stadt, in der man als Kletterer viel draußen unternehmen kann.

Sie haben da jetzt auch dieses künstliche Kletterding im Auge, das umzäunt am Nordrand des Mauerparks steht? Und für das nur DAV-Mitglieder den Schlüssel haben, um reinzukommen.

Na ja, dass da nur Leute mit Kletterausbildung reinsollen, hat versicherungstechnische Gründe. Aber draußen klettern ist typisch Berlin. Auf der Nebenkuppe des Teufelsbergs steht schon seit 40 Jahren eine Outdoorkletteranlage, eine der ersten überhaupt in Deutschland. Andere wie der Monte Balkon in Weißensee kamen erst nach der Wende dazu.

Seit anderthalb Jahren sind Sie Vorsitzender der hiesigen DAV-Sektion. Wie kam’s?

Das hat mit meinem beruflichen Hintergrund zu tun: Ich bin Bauplaner und Architekt. Gebäude an extremen Standorten haben mich schon immer interessiert. Noch dazu, wenn sie den Großteil des Jahres geschlossen sind und sich keiner kümmert. Darum habe ich mich 2006 für einen Arbeitseinsatz in einer der Hütten gemeldet. Und das war eine so großartige Erfahrung, dass ich dabei blieb. Da wird unter widrigen Bedingungen eng zusammengearbeitet – so etwas erlebt man im normalen Arbeitsleben nicht immer. Und als man im Jahr darauf begann, dieses Kletterzentrum hier zu planen, war klar: Es ist wichtig, auch Leute dabeizuhaben, die Planungserfahrung haben, nicht nur Kletterexperten. Ich war dann Projektleiter der Halle, und so kam eins zum anderen.

Ist das Gemeinschaftsgefühl von Kletterern stärker als bei anderen Sportarten?

Es ist zentral. Das fängt schon damit an, dass man Verantwortung für jemand anderes übernimmt, wenn man ihn sichert. Die Boulderanlage hier in der Halle haben Mitglieder in Eigenregie gebaut, um Kosten zu sparen, vier Monate lang. Die machen auch heute noch zusammen Urlaub. Diese Tiefe der Beziehung zueinander ist typisch.

Wie prägt dieses Hobby denn Ihr Leben?

Man hat schon einen gewissen Zeitaufwand, sich nur einmal im Monat engagieren reicht nicht. Ich bin Freiberufler und habe daher Freiräume, kann ein wenig disponieren.

Wenn man zu Ihnen nach Hause kommt: Sieht man auf den ersten Blick, womit Sie so viel Zeit verbringen?

Nein. Ich habe eine Kammer, in der meine Wanderschuhe stehen. Und einen Bergschrank, in dem alles Mögliche an Equipment lagert: Steigeisen, Biwaksäcke, Gamaschen. Die Rucksäcke passen da schon nicht mehr rein, die sind auf dem Hängeboden. Aber ein Aufkleber vom Deutschen Alpenverein klebt bei mir nirgends.

„Bergsport ist etwas für Explorer, die Lust haben, neue Wege zu gehen“

Im Januar sind zwei Amerikaner den El Capitan hoch, eine berüchtigte Steilwand im Yosemite-Nationalpark in Kalifornien. Verfolgen Sie so etwas?

Nur peripher. Vor ein paar Wochen lief auch in der ARD an zwei Abenden eine filmische Darstellung der Alpen mit einem nicht ganz unbekannten Bergsteiger als Protagonisten.

Herrn Messner?

Ja. In der Öffentlichkeit sind solche Highlights sehr präsent. Mein Interesse daran ist eher gering.

Wenn Berliner hier in der Gegend wandern gehen wollen, was könnten Sie empfehlen?

Wir haben eine „Natour“-Gruppe, das sind 70, 80 Leute, die machen unter anderem sehr viel im Berliner Umland. Auch wenn es flach ist, gibt es viele Herausforderungen.

Na ja, aber alpin ist das hier nun wirklich nicht.

Nein, aber es ist völlig okay, und es kann auch spannend sein, solche Touren zu machen.

Also auf in die Müggelberge, die Kondition trainieren?

Zum Beispiel. Aber mich zieht es eher weiter weg.

Wohin?

Ich mag das Allgäu am liebsten. Da bin ich jahrelang herumgestreift und habe alle Berge erstiegen – bis auf die Höfarts natürlich. Dort zu sein erzeugt ein Heimatgefühl, weil man sich so auskennt wie in seinem Kiez, in dem man seit vielen Jahren lebt.

Bei wie vielen Kilometern fängt für Sie denn eine richtige Bergwanderung an?

Schwer zu sagen. Da geht es ja nicht nur um Distanz, sondern auch um Höhenmeter. Drei Stunden können da schon so anstrengend sein, dass man danach total fertig ist.

Okay. Wie sieht für Sie eine ideale Strecke aus?

Ich mache gerne Mehrtagestouren, bei denen man nicht jeden Abend in die Zivilisation absteigt, sondern auf der Hütte bleibt. Da oben können Sie nachts sehen, was an Lichterschein aus dem Tal noch oben ankommt. Es zeigt einem: Das ist ganz weit weg. Diese Distanz ist was Tolles.

Worauf freuen Sie sich denn am meisten, wenn Sie unterwegs zur nächsten Hütte sind?

Auf die ganzen sinnlichen Dinge dort, die Zeit auf der Hütte ist wesentlich für mich. Vor 25 Jahren war ich oft als Selbstverpfleger unterwegs. Heute gibt es Lebensmittel aus der Region und von den Almen, man kocht regionale Spezialitäten. Ich nehme mir auch immer Vorrat an Bergkäse mit nach Hause – Kässpatzen sind eine Allgäuer Spezialität. So kann ich mir die auch in Berlin kochen. Für das Gefühl von etwas Berg zwischen all den Hügeln.