Gestohlene Kinder

Hauptmanns Stück „Die Ratten“ verkommt leicht zur historischen Sozialfolklore. Die Inszenierung von Michael Thalheimer am Deutschen Theater hingegen bewegt mit ihren einfachen Figuren

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Anfangs denkt man, da ist ja alles klar: Ratten leben unten. Für Gerhart Hauptmanns Stück „Die Ratten“ hat Olaf Altmann, der langjährige Bühnenbildner von Michael Thalheimer, den Raum auf einen schmalen Schlitz verengt, kaum schulterhoch, der allen einen krummen Gang, ein schräges Stehen, ein verbogenes und gebücktes Sichbegegnen abverlangt. Sich gerade in die Augen sehen, das geht hier schon rein physisch nicht.

Und so, wie die Körper sich quetschen und krümmen, verdrehen und verzerren müssen, geht es auch den Gefühlen und Gedanken der auftretenden Charaktere. Tatsächlich ist es ein schrecklicher Mangel an Selbstvertrauen, der vor allem Frau John so nach und nach die Luft abdreht, bis sie den wirren Fäden ihrer Lügen und ihrer Scham nur noch durch den Tod zu entkommen glaubt.

Um die Liebe ihres Ehemannes zurückzubekommen, hat sie ein Kind gestohlen und gibt es als ihr eigenes aus. Doch mit dem Kind tauchen Gespenster auf: Die Erinnerung an einen verstorbenen Sohn, der eine Wand der Trauer zwischen ihr und ihrem Mann, einem Maurermeister, aufbaute; ein totes Baby in der Nachbarschaft, das die Mutter, Morphinistin und Prostituierte, nicht ernähren konnte; und schließlich die leibliche Mutter des gestohlenen Kindes, die unter einem Busch ermordet aufgefunden wird.

Den sozialen Determinismus allerdings, den das Bühnenbild so nahelegt, den vergisst man bald wieder, zum Glück. Und man müsste „Die Ratten“, die 1911 uraufgeführt wurden, auch heute kaum noch spielen, wollte man nicht mehr als die Zwanghaftigkeit des tragischen Schicksals als Folge der Beschädigungen am unteren Rand des großstädtischen Milieus illustrieren.

Anfangs wirken die Figuren wie mit dem expressionistischen Strich eines Karikaturisten gezeichnet und in kleine Bildkästchen gepresst. Gerade diese Verkleinerung aber lässt, und das ist das Wunder dieser Inszenierung, die Wucht ihrer Emotionen umso stärker hervortreten. Frau Maurerpolier John wirkt nie lächerlich in ihrem Wunsch nach dem Ehemann und nach dem Kind. Es sind die einfachsten und doch die kompliziertesten Wünsche, die sie mit einer aggressiven und schwer gewöhnungsbedürftigen Berliner Kodderschnauze verteidigt.

Überhaupt, die Sprache – sie war für Hauptmann ein Mittel des Naturalismus und der behaupteten Wirklichkeitsnähe seiner Stücke. Pauline, deren ungewollte Schwangerschaft den Ball ins Rollen bringt, radebrecht mit ostpreußisch rollenden Rrrrs, Frau John und ihr stets verschwitzter und nasenblutender kleinkrimineller Bruder berlinern, dass man sich kurz im Zille-Museum glaubt. Thalheimer versucht gar nicht erst, für diese Idiome zeitgenössische Entsprechungen zu finden, sondern lässt sie als das stehen, was sie geworden sind: extreme Kunstsprachen, die heute vor allem deutlich den Wunsch transportieren, soziale Verortungen zu leisten. Für die Gegenwart aber bedeutet die einstige Zuordnung nicht mehr viel.

Michael Thalheimer hat das Stück nicht in der Gegenwart versetzt, aber für viele Bezüge in die Gegenwart geöffnet. Man denkt zum Beispiel an den extrem schizophrenen Umgang mit dem Kinderwunsch, der da, wo Reichtum und Erfolg vorhanden ist, große gesellschaftliche Anerkennung erfährt, aber dort, wo all das fehlt, höchst misstrauisch verfolgt wird. Man denkt daran, wie pervers heute Mutterglück ausgestellt wird, und wie der Kindsmord als Skandalgeschichte zurückgekehrt ist. Mit den „Ratten“ kann man nicht erklären, was da heute alles schiefläuft, wohl aber den Kern der Bedürfnisse und Konflikte herausschälen, um die es dabei eigentlich gehen sollte. Und das genau tut diese Inszenierung, auch dank der Schauspieler.

Hauptmanns Stück war in einem berüchtigten Berliner Mietsblock seiner Zeit angesiedelt. Die Großstadt schien dem Dichter eine Falle, in der der Arme nur untergehen kann. Dieser kulturpessimistische Touch gehört zu dem, was Thalheimers Inszenierung außen vor lässt, und sie macht Hauptmann damit ein wenig moderner, als er eigentlich ist. Aber schließlich ist Literaturkritik auch nicht die erste Aufgabe einer Inszenierung. Für diesmal steht eindeutig das Interesse an den Figuren im Vordergrund.

Deutsches Theater, wieder am 10., 25. und 27. Oktober