Was bleibt, stiften die Musiker

Ein großer Wurf: „Abendland“ von Michael Köhlmeier erzählt die Patchwork-Familiengeschichte des 20. Jahrhunderts

VON TOBIAS RAPP

Nein, man möchte kein Schriftsteller sein, der einen Generationenroman schreibt, der sich über das gesamte 20. Jahrhundert in Deutschland erstreckt. Aus offensichtlichen Gründen. Wie immer man die mögliche Familiengeschichte dreht und wendet – will man ihr auch nur ein wenig überindividueller Gültigkeit verleihen, wird immer die Generation der Großväter im Mittelpunkt stehen. Nazizeit, Zweiter Weltkrieg, Holocaust: Es ist schwer, von einem Danach zu erzählen, das nicht vor allem Wegschaffen und Bewältigen von dem ist, was die Großeltern angerichtet haben. Und von einem Davor, das nicht vor allem Vorbereitung für diese Verbrechen ist.

Umso interessanter, dass Michael Köhlmeier mit seinem neuen Roman „Abendland“ genau dies gelingt. Vielleicht muss man Österreicher sein, um dieses Gravitationszentrum zu umgehen, dort wurde es mit der Vergangenheitsbewältigung ja eh nie so genau genommen. Vielleicht ist zu Beginn des neuen Jahrhunderts auch einfach genug Zeit ins Land gegangen. Wahrscheinlich lässt sich eine Generationengeschichte, die das 20. Jahrhundert umspannt, aus der Billigflieger-Gegenwart heraus aber sowieso nur noch erzählen, wenn das ganze Abendland den Rahmen abgibt. So oder so: Köhlmeiers „Abendland“ ist ein ganz erstaunliches Buch.

Carl Jacob Candoris nennt Köhlmeier seine Hauptfigur, ein 95-jähriger Herr, der den Erzähler, einen Schriftsteller namens Sebastian Lukasser, zu sich ruft, um ihm sein Leben zu erzählen. Wir schreiben das Jahr 2001, das 20. Jahrhundert ist vorbei, und Candoris spürt, dass es auch mit ihm zu Ende geht. Candoris war Mathematiker, Jazzliebhaber, Weltbürger, Whiskeyhändler und noch einiges mehr – vor allem ist er aber so etwas wie ein österreichischer Forest Gump. Immer ist er irgendwie dabei gewesen, wenn auch immer nur am Rand.

Sein Vater, ein k. u. k. Offizier, fällt im Ersten Weltkrieg, seine Mutter ist als Alleinerziehende das schwarze Schaf einer äußerst wohlhabenden Familie von Wiener Delikatessenhändlern. Candoris’ Wanderschaft durch die Weltgeschichte beginnt als Kind, als er ein Jahr bei Verwandten verbringt, die die viele Jahre später heilig gesprochene Nonne Edith Stein als Hauslehrerin beschäftigen. Und so geht es weiter. Candoris studiert Mathematik bei Emmy Noether in Göttingen, lernt dort einige spätere Nobelpreisträger und Atombomben-Entwickler kennen, macht mit Noether eine Reise in die stalinistische Sowjetunion, kurz bevor dort die Schauprozesse beginnen. Er geht nach Portugal, um dort ein Handelshaus für Spirituosen aufzubauen, reist nach New York, wo er Billie Holiday bei ihrem legendären Auftritt mit dem Duke Ellington Orchestra im Apollo Theatre in Harlem sieht, kurze Zeit später erlebt er Django Reinhardt in Paris. Er wird vom britischen Geheimdienst angeworben, um das deutsche Atomprogramm auszuspionieren, landet nach einigen Irrungen und Wirrungen bei der Entwicklung der amerikanischen Bombe, kehrt schließlich als Offizier der US-Armee nach Wien zurück und wird Mathematikprofessor an der Wiener Universität. Vorher schmuggelt er sich noch als Beobachter in die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse ein.

Köhlmeier liebt diese Figur. Und so elegant und scheinbar mühelos er sich Candoris durch die Katastrophen des Jahrhunderts bewegen lässt – er hat auch seine dunklen Seiten, die ganz eigenartig unberührt von dem Großgeschehen um ihn herum sind, und genau deshalb so überaus glaubwürdig. Hier kommt Sebastian Lukasser ins Spiel, der Erzähler und Sohn von Georg Lukasser, einem begnadeten Jazzgitarristen, den Candoris im Nachkriegswien jahrelang zu unterstützen versucht.

Denn ja – natürlich ist das alles ein bisschen viel der historischen Referenzen, wenn es auch immer aufgeht, jeder Handlungsfaden, der liegen zu bleiben scheint, wird mit Sicherheit 300 Seiten später wieder aufgenommen. Was „Abendland“ aber vor allem zusammenhält, ist die dialogische Struktur seiner Erzählung. Sebastian Lukasser erzählt, was Candoris ihm erzählt. Und auch wenn Lukassers einziger direkter Eingriff in den Lauf der Weltgeschichte die vollkommen folgenlose Fahrt ist, mit der er den linksradikal gewendeten Bruder des Schulhof-Kings seiner Kindheit, der sich der RAF anschließen will, bei der Exmitbewohnerin seiner Frau ablädt, einer grässlichen K-Gruppen-Tante aus dem Schwäbischen –, Lukasser bildet den Gegenpart zu Candoris, mit seinen eigenen Amerika-Erfahrungen und seinem Bestehen darauf, gegen diese übermächtige Jahrhundertstimme das Recht auf die Wichtigkeit seiner eigene Biografie zu verteidigen.

Tatsächlich ist das eigentlich Faszinierende an „Abendland“ aber nicht, was passiert, es ist, wie dieser Roman den Angriff seiner Gegenwart auf die restliche Zeit organisiert. Denn vom reinen Umfang erzählerischer Tätigkeit liegt der Schwerpunkt natürlich auf den Geschehnissen der Dreißiger- und Vierzigerjahre. Interessanterweise lässt Köhlmeier Candoris aber weder als Täter noch als Opfer durch die Trümmer jener Zeit spazieren. Die Fährten, die Köhlmeier auslegt, führen zwar fast alle ins Zentrum des Katastrophenjahrhunderts, es läuft aber nur selten jemand tatsächlich hinein.

Candoris ist ein gut informierter Beobachter, für den der Weltbürgerkrieg der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts keinen Anlass mehr bietet, Stellung zu beziehen, diese Kämpfe sind gekämpft, für wen das Herz schlägt und der Kopf denkt, ist ohnehin klar. Köhlmeier benutzt Stalinismus, NS-Zeit, Volksfront und Bau der Atombombe als Szenarien, durch die er seinen Helden schickt, um sich um die wirklich wichtigen Dinge des Lebens zu kümmern: Jazz zum Beispiel und Mathematik. Damit dürfte Köhlmeier einer Generationenerfahrung der nach 1960 Geborenen recht nahe kommen, für die das Grauen eben vor allem Erzählung ist. Meta-Erzählung im Grunde sogar, also Geschichten, deren Kontexte die Elterngeneration in Auseinandersetzung mit deren Eltern ausgehandelt hat.

Dass dies funktioniert, dass man heute Geschichten über das 20. Jahrhundert erzählen kann, für die das Erlebnis eines Billie-Holiday-Konzerts die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts verblassen lässt, dürfte eine der großen zivilisatorischen Errungenschaften der Gegenwart sein (die ohne die Kämpfe, die in diesem Bild ausgeblendet werden, auch nie möglich gewesen wäre). Für das Abendland zumindest. Im Morgenland sieht das schon wieder ganz anders aus.

Michael Köhlmeier: „Abendland“ Hanser Verlag, München 2007. 784 S., 24,90 €