Vielfältige Elektrisierungen

ERSTKLASSIG 30.313 Zuschauer sorgen beim Viertligaspiel zwischen Alemania Aachen und Rot Weiss Essen für einen Besucherrekord. Zur Bundesliga-Atmosphäre tragen auch die Sicherheitsmaßnahmen bei

AACHEN taz | Fußball braucht keine Bundesliga, um zu elektrisieren. Am Samstag kamen 30.313 Zuschauer in den ausverkauften Tivoli, um ein Regionalligaspiel zu sehen. Aachen gegen Essen, das immergrüne Duell im Westen, Erster gegen Zweiter. So viele Menschen wollten noch nie in Deutschland ein Viertligaspiel sehen. Dazu kam die Live-Übertragung im WDR. Bei eBay war jemandem eine Stehplatzkarte (Normalpreis 10 Euro) 47,50 wert, der beste Sitzplatz ging für 90 Euro weg statt regulär 28.

„Tradition braucht keine Liga“, stand auf einem großen Fantransparent. In den fünf Regionalligen spielen heute neun ehemalige Erstligisten. Aachen und Essen stechen heraus: Der eine war mal Bundesliga-Vizemeister, dreifacher Pokalfinalist, vor zehn Jahren noch im Europapokal unterwegs; der andere einst Pokalsieger (gegen Aachen, 1953) und vor 60 Jahren Deutscher Meister. Beide sind mittlerweile durch die Insolvenz gegangen. Essen ist die größte deutsche Stadt, die nur Viertligafußball kennt. Rot-Weiss Essen, der wohl weltweit bekannteste Vereinsname mit einem Rechtschreibfehler, war zeitweilig sogar in Liga 5.

Sportlich, mutmaßte Aachens Trainer Peter Schubert vorher, seien beide Teams von „sehr guter Qualität“. Das konnte sehen, wer bei höheren Ligen wegschaut. Ein Match voller Giftigkeiten, Zweikampflüsternheit und Rudelchenbildung. Höhepunkte gab es drei: Ein Lattenschuss der spielerisch besseren Essener zu Beginn, eine gelb-rote Karte von RWE-Verteidiger Richard Weber und ein Kopfballtor. Alemannia siegte 1:0.

Fußball braucht gar nicht gespielt zu werden, um seinen Irrsinn zu belegen: Aachen war zuletzt pleiter als jeder Geier. Insolvenz im Oktober 2012, Abstieg auf Abstieg. Diverse Rechtsstreite ziehen sich bis heute hin. Gegen Pleite-Geschäftsführer Fritjof Kraemer und Pleite-Sportchef Erik Meijer (jetzig launiger Sky-Experte) ermittelt die Staatsanwaltschaft Köln seit Ende 2012 wegen Insolvenzverschleppung und Betrug. Kraemer klagte zivilrechtlich zurück gegen seine fristlose Kündigung und begehrt 250.000 Euro Restzahlungen. Der Klub hat Kraemers Schaden auf 20 Millionen Euro taxiert.

Immer noch stehen halbfertige Betonruinen neben dem Stadion, innen schimmelt es, ein Teil der Rasenheizung wurde, wie sich herausstellte, nie verlegt. Auch hier Rechtsstreit: mit Bauunternehmer Hellmich, Streitwert 2,1 Millionen. Kurios: Der Klub ging wegen des überdimensionierten Stadions für 50 Millionen in die Knie. Gleichzeitig ist der Tivoli heute die Lebensversicherung: Im Januar hat die Stadt das Stadion gekauft, für einen Euro. Es war „der teuerste Euro, den die Stadt je ausgegeben hat“. Millionen an Instandhaltungskosten sind pro Jahr fällig. Dazu die Zig-Millionen-Bürgschaften von Stadt und Land.

Fußball braucht auch keinen Fußball, um zu elektrisieren. Es reicht der gegenseitige Erbhass. In den Archiven finden sich die Stichworte: Spielerverletzung durch Steinwurf, Feuerwerkskörper in den Gegnerblock, auf dem Platz Boxhiebe, Blutgrätschen, rituelle Rote Karten. Neben dem Platz: Massenkeilereien, demolierte Busse, Hooligan-Mobs, einmal eine zerlegte Kneipe.

Es gibt Randale, weil es die schon immer gab; genauso wie die Leute am Samstag ins Stadion strömten, weil alle strömten. Für die 6.000 Essener waren extra neue blickdichte Käfigeingänge gebaut worden. Hunderte Polizisten waren allgegenwärtig. Und es blieb ruhiger als angenommen; Böller, Bengalos und gelbe Rauchwolken nur außerhalb, ein paar verbale Übergriffe, Feuerzeuge aus dem Essener Block auf die Haupttribüne: Peanuts. Tragisch: Ein Essen-Fan starb bei der Anreise im Sonderzug an Herzschlag.

Was sagte der Herrgott, nachdem er den Ruhrpott erschaffen hatte? Essen ist fertig. Und Aachen? Hatte seinen Torschützen Kevin Behrens, der sein Tun griffig erläuterte: „Hab mich hochgeschraubt und eingenetzt.“ Fertig. Gewonnen. Tabellenführung. „Das war Bundesliganiveau.“ Sagte der Einsatzleiter der Polizei. Er meinte die Sicherheitsmaßnahmen.

BERND MÜLLENDER