LESERINNENBRIEFE
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Böse Agitatoren

■ betr.: „Was will die Linkspartei?“, taz vom 22. 10. 11

Stefan Reinecke verlangt in seinem Kommentar von der Linkspartei programmatisch „mehr Bisky und weniger Lafontaine, mehr Offenheit für die bundesdeutsche Wirklichkeit, weniger Parolen“. Die „digitale Boheme“ solle angesprochen werden, „jene Milieus, in denen Selbstausbeutung und Selbstverwirklichung verfließen“. Er findet es erstrebenswert, „dass neue soziale Unsicherheiten manchen als neue Freiheiten erscheinen“.

Dagegen ist zu sagen, die Linkspartei ist die einzige Partei, die sich als Kümmerer für prekäre Lebensverhältnisse versteht, für Hartz-IV-Empfänger, Niedriglöhner, Zeit- und für Leiharbeiter. Es ist doch pure Sozialromantik, wenn solche sozialen Unsicherheiten als neue Freiheiten verkauft werden sollen. Das Schickimicki-Milieu wird längst von der FDP und zunehmend auch von den Grünen bedient, vielleicht demnächst auch von der Piratenpartei, wenn sie sogar frühere NPD-Kreisverbandsvorsitzende in ihren Reihen duldet.

Stefan Reinecke kritisiert, dass die Linke im Turbokapitalismus das soziale Grundübel sieht. Wer nach 2008 immer noch die neoliberale Marktwirtschaft rühmt, der hat die jüngste Geschichte verschlafen und die des 19. Jahrhunderts nicht zur Kenntnis genommen. Was ist daran so schlimm, wenn die Linke fordert, die Banken zu bändigen und zu regulieren? Dasselbe forderte die Kanzlerin nach der Lehman-Pleite doch auch, ohne allerdings wirklich etwas dafür zu tun.

Dass sich der Kapitalismus zu einem Raubtier entwickelt habe, ist nicht, wie Reinecke meint, eine Erkenntnis der Linkspartei und der bösen Agitatoren Lafontaine und Wagenknecht, sondern geht auf den konservativen Sozialdemokraten und Zeit-Herausgeber Helmut Schmidt zurück.

Immerhin gesteht Reinecke: „Vieles von dem, was Lafontaine über die Finanzmärkte gesagt hat, wirkt im Rückblick hellsichtig.“ Zu einem Zeitpunkt, als es noch möglich gewesen wäre, die Finanzmärkte zu regulieren, hatte Lafontaine als Bundesfinanzminister öffentlich entsprechende Forderungen erhoben. Daraufhin attackierte ihn die Londoner Finanzpresse. Kurz darauf trat er zurück.

Es würde mich sehr interessieren, welche Telefonate zwischen Tony Blair und Gerhard Schröder seinem Rücktritt vorausgegangen sind, als die beiden von einem neuen Begriff der Gerechtigkeit fantasierten. Das Ergebnis ihres neoliberalen Gerechtigkeitsbegriffs liegt vor: privater Reichtum und öffentliche Armut. Darum brauchen wir eine Politik à la Lafontaine, selbst wenn sie nicht von ihm und seiner Linkspartei durchgesetzt werden mag.

MARTIN BREIDERT, Bad Honnef

Pazifismus-Bashing

■ betr.: „Was sagen, Mr. Minister?“, taz vom 19. 10. 11

Warum versteckt sich ein taz Autor hinter dem Pazifismus-Bashing eines Zeit-Redakteurs? „Das westliche Bündnis durfte von einem demokratisch mündig gewordenen Deutschland eine aktivere Rolle bei außenpolitischen Konflikten erwarten.“ Und: „die Zeit des friedlichen Abseitsstehens neigte sich dem Ende zu“. Um solche Worthülsen des herrschenden Personals abzudrucken, ist die taz zu schade. Gebraucht wird eine über den Krieg recherchierende Presse. Zum Libyenkrieg, den der taz-Autor offensichtlich irgendwie gut findet, gibt es aber nur eine labernde Presse. Aber: Wer über die Opfer nichts zu berichten weiß, soll über den Krieg schweigen. PETER LÖWE, Wien

Die Tochter in des Vaters Armen

■ betr.: „An der eigenen Hand aus der Tiefe emporgezogen“, taz vom 21. 10. 11

„Ich will nichts wissen“ mag eine Romanfigur verkünden, einer Rezensentin steht das aber nicht gut an. Nachdem nun zwei Jahre lang dank der Betroffenen und ihrer Verstärkung durch die Presse die Öffentlichkeit für die Brisanz des sexuellen Missbrauchs sensibilisiert wurden, kann man Kleists Hellsichtigkeit und psychologischen Feinsinn zweihundert Jahre zuvor gar nicht genügend würdigen.

Während der Marquise noch glaubhaft gemacht werden soll, der Jäger habe sie vergewaltigt und der Vater dies geduldet und aus Scham gedeckt, stellt Kleist klar, was vor sich ging: „Wie? Wo? Wann? fragte die Marquise verwirrt. Das, antwortete jene [die Mutter] will er nur dir anvertrauen. Scham und Liebe, meinte er, machten es ihm unmöglich, sich einer anderen hierüber zu erklären, als dir. […] du magst sehen, ob du ihm sein Geheimnis, indessen ich abtrete, entlockst. – Gott, mein Vater! rief die Marquise; ich war einst in der Mittagshitze eingeschlummert, und sah ihn von meinem Diwan gehen, als ich erwachte! Und damit legte sie ihre kleinen Hände vor ihr mit Scham erglühendes Gesicht. […] Sie vernahm, da sie mit sanft an die Tür gelegtem Ohr horchte, ein leises, eben verhallendes Gelispel, das, wie ihr schien, von der Marquise kam; und, wie sie durch das Schlüsselloch bemerkte, saß sie auch auf des Kommandanten Schoß, was dieser sonst in seinem Leben nicht zugegeben hatte. Darauf endlich öffnete sie die Tür, und sah nun […]: die Tochter still, mit zurückgebeugtem Nacken, die Augen fest geschlossen, in des Vaters Armen liegen; indessen dieser, auf dem Lehnstuhl sitzend, lange, heiße und lechzende Küsse, das große Auge voll glänzender Tränen, auf ihren Mund drückte: gerade wie ein Verliebter! […] Sie nahte sich dem Vater endlich, und sah ihn, da er eben wieder mit Fingern und Lippen in unsäglicher Lust über den Mund seiner Tochter beschäftigt war, […] von der Seite an.“

Wie laut müssen die Gewaltopfer schreien, wie oft müssen sie sich überwinden, zu sprechen, wenn wir nicht einmal dann, wenn wir es schwarz auf weiß lesen können und keinerlei persönliche Verstrickung fürchten müssen, nicht sehen und hören wollen, was uns vor Augen geführt wird? KERSTIN RUOFF, Wiesbaden