die taz vor 15 jahren über rassismus und den literaturnobelpreis für Derek Walcott
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Es ist aufschlußreich, daß der Nobelpreis für Literatur an Derek Walcott verliehen wurde, einen schwarzen Poeten, geboren auf der kleinen Karibikinsel Santa Lucía, der nicht nur dem breiten Publikum unbekannt ist, sondern auch einem großen Teil der Literaturkritik. Worüber gibt diese Tatsache Aufschluß? Es ist wohl unvermeidlich, daß viele das Datum 1992, an dem sich die Ankunft Kolumbus’ an den Küsten Amerikas – genauer: an den Küsten einer kleinen karibischen Insel – zum fünfhundertsten Mal jährt, in einem einfachen logischen Schluß mit der Verleihung des Nobelpreises an einen schwarzen und karibischen Dichter in Verbindung bringen und in der Folge die Auszeichnung für Walcott als Ergebnis einer politisch-historischen Verpflichtung der schwedischen Akademie sehen.

Diese subtile Form des Rassismus hat ein nur allzu klares Fundament. Über Jahrhunderte hinweg waren das Konzept der europäischen Literatur und das der Weltliteratur ein und dasselbe; was in anderen Teilen der Welt geschrieben wurde, war Folklore oder Objekt der Neugierde von Sinologen und Arabisten. Diese Vorstellung, die zumindest zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert eine unanfechtbare Wahrheit war, ist heute ein absoluter Anachronismus. Die Söhne und Töchter der ehemaligen Sklaven haben von der Sprache der Kolonisatoren Besitz ergriffen, sie erneuert und bereichert, und sie sind es heute, die am Kopf der Tafel Platz genommen haben und den Ton angeben. Europa jedoch weigert sich, dies anzuerkennen. Heimgesucht von den Gespenstern des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit, verschanzt es sich hinter den Mauern der Maastrichter Festung. Europas letzte Bastion ist der Paternalismus; ihm zufolge kann die Verleihung des Nobelpreises an Derek Walcott nichts anderes sein als ein Zugeständnis der Akademie an den 500. Jahrestag. Dieser paternalistische Blick ist dumm. Jesús Díaz, kubanischer Schriftsteller und Filmemacher, taz, 12. 10. 1992