Ein Erbe des Landrechts

Schulen sind Veranstaltungen des Staates, so haben das die alten Preußen festgesetzt. Das wirkt nach: Noch immer ist es schwierig, privat zu beschulen, besonders dort, wo die SPD das Sagen hat

von Felix Zimmermann

Wenn es um die Schule geht, gibt sich der deutsche Staat gerne preußisch – mal in der knallharten Version, mal in einer etwas abgemilderten. Zum Beispiel, wenn es um die inzwischen berühmte Familie Neubronner aus Bremen-Nord geht. Die Eltern, Tilman und Dagmar, wollen partout ihre beiden Söhne Moritz und Thomas nicht zur Schule schicken, weil die Kinder beteuern, dass sie da nicht hin wollen. Die Schulbehörde hat sich das eine Weile angesehen, hat Einwände gehabt, gegen die die Neubronners und deren Söhne argumentierten – nun sollen die Neubronners 1.500 Euro Ordnungsgeld zahlen, die Klage dagegen ist angekündigt, irgendwann wird eine Entscheidung fallen, und es ist nicht davon auszugehen, dass die Neubronner-Kinder weiter zu Hause lernen dürfen. Homeschooling – so heißt das, weil es in anderen Ländern praktiziert werden darf – sei in Deutschland keine Alternative zur Schulpflicht, sagt die Behörde. Staat macht Schule, heißt der Umkehrschluss, und so haben es die Alten Preußen 1794 ins Allgemeine Preußische Landrecht geschrieben: „Schulen und Universitäten sind Veranstaltungen des Staates, welche den Unterricht der Jugend in nützlichen Kenntnissen und Wissenschaften zur Absicht haben.“ Wer das radikal anders sieht, kriegt Ärger. So wie auch Familie Neubronner.

Etwas milder ist der Umgang mit Privatschulen. Die sind in den Jahren seit dem niederschmetternden Pisa-Test in der Beliebtheitsskala der Deutschen gestiegen, dem Staat wird seltener zugetraut, in der Veranstaltung Schule der Jugend nützliche Kenntnisse zu vermitteln, wie es die Preußen wollten. Immerhin, das staatliche Schulmonopol ermöglicht die Gründung von Privatschulen, die im Rufe stehen, die motivierteren Lehrer, kleinere Klassen und bessere Bedingungen zu haben. Aber einfach ist das nicht – und wohl auch nicht gewollt. Nach Ansicht des Hamburger Erziehungswissenschaftlers Peter Struck ist es sogar „sehr schwierig, in Deutschland eine Privatschule zu gründen“. Dazu brauche es Verwaltungsfachleute und Juristen, ausgefeilte Konzepte und vor allem einen langen Atem, weil die Konzepte mitunter mehrmals als untauglich abgelehnt würden. Vor allem in SPD-regierten Ländern seien die Hürden „besonders hoch“, sagt Struck; in Rheinland-Pfalz etwa dürften Privatschulen von Rechts wegen gar nicht erst gegründet werden.

Dabei kam gerade am Verbot des Neubronnerschen Unterrichts zu Hause erst kürzlich herbe Kritik von UNO-Inspekteur Vernor Munoz, der durch Deutschland tourte, um die Schwächen des Schulsystems offenzulegen. Munoz hatte den Eindruck, „dass in manchen Bundesländern Bildung ausschließlich als „Schulbesuch“ verstanden wird“. Er sei zwar ein Verfechter der unentgeltlichen und obligatorischen öffentlichen Bildung, erinnerte aber daran, dass Bildung nicht auf „school attendance“ reduziert werden dürfe, sondern stets auf das Wohl des Kindes ausgerichtet sein müsse. „Alternativen wie Homeschooling sind mögliche Optionen, die unter gewissen Umständen in Betracht kommen können, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass nach Artikel 13 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte Eltern das Recht zukommt, die angemessene Bildung für ihre Kinder zu bestimmen“. Modelle ohne physische Präsenz im Schulgebäude dürften nicht angeprangert werden, schrieb Munoz. Im Gegenteil: Er plädierte dafür, den Eltern das Recht zu gewähren, das Homeschooling zu betreiben, wenn es notwendig und angemessen erscheine. Die Neubronners haben sich zusätzlich ein Gutachten besorgt, das überprüft, ob das Recht auf Homeschooling mit dem bremischen Schulrecht vereinbar ist. Der Gutachter, Johannes Goldbecher aus Rostock, sieht den Erziehungsauftrag gemäß Artikel sechs des Grundgesetzes bei den Eltern – und wenn die Hausschulung wollten, dann müsse das allein schon deshalb auch möglich sein. Goldbecher verweist auf das Selbstentfaltungsrecht des Kindes, das ein Recht auf Individualismus miteinschließen müsse und hinterfragt Ausnahmeregelungen für Zirkuskinder und Kinder Prominenter, die Homeschooling legal betrieben.

Die Neubronners wird das Gutachten gefreut haben und mit ihnen wohl etwa 500 andere Familien in Deutschland, die ihre Kinder zu Hause unterrichten. So viele sollen es jedenfalls nach Schätzungen des Bonner Bildungsforschers Volker Ladenthin sein. Als er sich für ein Buch mit dem Thema beschäftigte, war er überrascht, „dass das weit mehr als ein paar Einzelfälle sind“. Seiner Einschätzung nach sind es vor allem „gebildete Eltern mit Hang zur Alternativpädagogik, die das staatliche Bildungssystem herausfordern“.

Überraschend viele, aber immer noch wenige im Vergleich zu denen, die Privatschulen als einzig wahren Ort der Bildung für ihre Sprösslinge ansehen. Zur Zeit werden jährlich rund 50 neue Privatschulen gegründet, derzeit sind es laut Bildungsexperten rund acht Prozent aller Schüler, die nicht an einer staatlichen Schule unterrichtet werden, innerhalb der vergangenen zwölf Jahre hat sich deren Zahl verdoppelt. Als unbestreitbare Vorzüge privater Schulen gelten kleinere Klassen, motiviertere Lehrer, klare Profil- und Schwerpunktbildung. Vor allem aber ist es die seit Pisa anhaltende tatsächliche – oder vermeintliche? – Bildungsmisere, die Eltern von staatlichen Schulen abrücken lässt. Christian Gloede-Noweck vom Bremer Landesvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) würde diesen Trend gerne stoppen. Er sieht darin die Gefahr zunehmender sozialer Entmischung. Die Betuchten auf der teureren Privatschule, die Armen auf der staatlichen Schule.

Da könnte wieder ein Blick in andere Länder helfen: In Europa besuchen im Durchschnitt 20 Prozent der Schüler eine Privatschule, in den Niederlanden sind es gar 70. Und gerade in diesen Ländern ist die soziale Entmischung überhaupt nicht so ausgeprägt, die staatlichen Schulen scheinen auch nicht schlechter geworden zu sein, jedenfalls ist Pisa dort weiterhin in erster Linie eine italienische Stadt und als Synonym eines schwachen Bildungssystems nicht bekannt. Die Niederlande sind denn auch das bevorzugte Modell des Hamburger Erziehungswissenschaftlers Peter Struck. Ihm gefällt die „bunteste Schullandschaft der Welt mit 400 verschiedenen Schulprofilen“. Die Privatschulen dort werden komplett vom Staat finanziert und ermöglichen durch ihre Vielfalt etwas, das den Alten Preußen sehr fremd gewesen wäre, nicht aber der schlechteste Weg sein muss: „In den Niederlanden fällt diese unsinnige Hierarchie weg: höherwertige Bildung an Gymnasien, mittelmäßige an Realschulen und minderwertige an Hauptschulen. Dort gibt es einfach ganz viel Andersartiges gleichwertig nebeneinander.“