Islamisten vor dem Wahlsieg

TUNESIEN Erste Trends geben Ennahda teils über 40 Prozent, gefolgt von Sozialdemokraten. Konflikt ist zu erwarten. Hohe Wahlbeteiligung

„Wer wird Tunesien führen? Das Volk oder eine neue Diktatur?“

ZOHRA BEN KHOUD, BLOGGERIN

AUS TUNIS REINER WANDLER

Die Trends sprechen eine deutliche Sprache: Die islamistische Ennahda-Partei hat Tunesiens erste freien Wahlen vom Sonntag offensichtlich gewonnen. Sie liegt nach eigenen Angaben in vielen Wahlkreisen zwischen 25 und 50 Prozent. Die Partei erklärte am Nachmittag, sie rechne mit 60 bis 65 der 217 Abgeordnetensitze – die Sitze werden nach Provinzen vergeben. Das amtliche Endergebnis wird erst am heutigen Dienstagnachmittag vorgelegt.

Als erstes Ergebnis wurde das der tunesischen Emigranten in Deutschland bekannt. Bereits am Sonntagabend machten die Zahlen im Facebook die Runde: 42,8 Prozent der in Deutschland lebenden Tunesier gaben Ennahda ihre Stimme. In Frankreich sollen vier der zehn Sitze an die Islamisten gehen.

Im Laufe des Montags wurden von tunesischen Medien nach und nach Trends und Zahlen aus unterschiedlichen Regionen veröffentlicht. Demnach liegt Ennahda im Großraum Tunis in einigen Wahlbüros deutlich vorn. In Sfax, der zweitgrößten Stadt des Landes, sollen sie gar über 40 Prozent erreicht haben. Im Landesinnern, wo die Revolte gegen Ben Ali ihren Ausgang nahm, ist der Trend ähnlich.

Zweitstärkste Kraft wird wohl die Demokratische Fortschrittspartei (PDP) unter Generalsekretärin Maya Jribi und Parteigründer Nejib Chebbi. Die sozialdemokratisch-liberal orientierte Kraft, die bereits unter der Diktatur des am 14. Januar gestürzten Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali zugelassen war, erkannte am Nachmittag ihre Niederlage an. Sie lehnt eine Regierung der Nationalen Einheit unter Ennahda ab. Politischer Konflikt ist damit vorprogrammiert.

Die Wahlbeteiligung lag bei über 90 Prozent der mehr als 4 Millionen registrierten Wähler, erklärte die Unabhängige Wahlbehörde (ISIE). Wie hoch sie bei denen war, die ohne Registrierung mit Personalausweis direkt zum nächsten Wahllokal gingen, wurde noch nicht bekannt. Nur wer sich im Vorfeld registrierte, konnte am Wohnort seine Stimme auch dann abgeben, wenn in seinen Ausweispapieren ein anderer Wohnsitz stand. Alle anderen mussten dahin reisen, wo sie gemeldet sind. Tunesien hat rund 7 Millionen Einwohner im wahlfähigen Alter.

Im Allgemeinen seien die Wahlen ordentlich über die Bühne gegangen, bestätigte die ISIE. Allerdings wurden mancherorts die Wähler und Wählerinnen von Beobachtern einzelner Parteien bedrängt, ihrer jeweiligen Formation die Stimme zu geben.

Während sich die Parteien mit Kommentaren zurückhalten, wurde unter Bloggern und in den Facebookgruppen, die einst die Jugend auf die Straße mobilisierten, die Furcht vor den Islamisten laut. „In den letzten Tagen habe ich nur eine Sorge, das Tunesien von morgen. Wie wird es sein? Wer wird es führen? Das Volk oder eine neue Diktatur? Ich bin beunruhigt … ich habe Angst, meine Identität zu verlieren, ich habe Angst, meine Rechte als Frau zu verlieren ...“, schreibt die junge Bloggerin Zohra Ben Khoud. In einem anderen Posting heißt es: „Allen, die in Frankreich Ennahda gewählt haben, wünsche ich Marine Le Pen zur Präsidentin.“