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Archiv-Artikel

Wunderbare Rettungen gibt es dennoch

TÜRKEI Hilfslieferungen erreichen Erdbebengebiet. Zahl der Toten steigt. Kälte und Schnee werden zur Bedrohung

Angeblich sind Verletzte, die nicht versorgt werden konnten, bereits erfroren

VON JÜRGEN GOTTSCHLICH

ISTANBUL taz | Die Stadt gleicht einem Trümmerfeld. Nachdem der allererste Schock des Bebens abgeklungen ist und die Leute aus dem „Albtraum von 25 Sekunden“, wie Hürriyet am Tag danach titelte, langsam aufgewacht sind, stehen viele fassungslos vor den Überresten ihrer Häuser. Vor allem in Ercis, der Stadt am nördlichen Rand des Vansees, ist nichts mehr, wie es noch am Sonntagmorgen war. Ganze Straßenzüge sind eingestürzt, hunderte Hilfsmannschaften bemühen sich fieberhaft, Verschüttete aus den Trümmern zu retten.

Dabei gibt es immer wieder kleine Wunder wie die Rettung eines sechsjährigen Mädchens, das unter einem Apartmentblock begraben war, oder den 19-jährigen Jungen, der sich per Handy bemerkbar machen konnte und gerettet wurde. Insgesamt sollen 2.500 Helfer aus dem ganzen Land im Einsatz sein. Trotz geglückter Rettungen steigt die Zahl der Todesopfer stündlich an. Bis 16 Uhr am Montag waren 270 Leichen geborgen, davon 117 in Ercis. Allein in einem Schülerinternat in der Stadt wurden 10 Kinder von Schutt begraben.

Am Montagnachmittag sind auch die ersten großen Hilfslieferungen in Ercis und in der Provinzhauptstadt Van angekommen. Überall wird Essen verteilt, und der türkische Rote Halbmond hat lange Reihen von Zelten aufgebaut, sodass die Obdachlosen nicht eine zweite Nacht im Freien verbringen müssen. Nachts ist es im Hochland in der Provinz Van bereits sehr kalt, für Mittwoch wird mit ersten Schneefällen gerechnet.

Das wird für die kleinen und abgelegenen Dörfer in der Region zu einem großen Problem. Viele von ihnen sollen völlig zerstört sein, zu vielen waren auch am Montagnachmittag noch keine Helfer vorgedrungen. Bilder aus einem Dorf zeigen, dass von den kleinen Lehmhäusern kein einziges mehr stand. Angeblich sind Verletzte, die in den Dörfern nicht versorgt werden konnten, bereits erfroren.

In Istanbul, Ankara und den großen Städten des Landes sind Depots eingerichtet worden, zu denen Privatleute ständig Spenden bringen. Auch Ministerpräsident Tayyip Erdogan hat bei seinem Besuch in Ercis und Van angekündigt, dass der Staat jeden obdachlos gewordenen Bürger versorgen werde.

Trotzdem fragen sich die Menschen, warum es überhaupt zu so einer schweren Katastrophe kommen musste. Nach dem Erdbeben von 1999 in der Region östlich von Istanbul hatte man neue Bauvorschriften angekündigt, um die Häuser vor zukünftigen Beben zu schützen. Doch das, sagte Mücella Yapici von der Istanbuler Architektenkammer gegenüber CNN-Türk, sei häufig reine Theorie geblieben. Nach wie vor werde schlampig gebaut und vor allem im armen Osten des Landes sei es fast unmöglich, strengere Bauvorschriften durchzusetzen. Auch Prof. Ahmet Yakut von der Technischen Uni in Istanbul bestätigte im Sender NTV, dass das Baumaterial vor allem in den armen Regionen nach wie minderwertig sei und viele Häuser immer noch ohne Architekten und Statiker gebaut würden. Selbst für Istanbul, das ebenfalls stark erdbebengefährdet ist, gelte, dass zwei Drittel der Häuser einem schweren Beben kaum standhalten würden.