Klassenerhalt gefährdet

In der Integrativen Waldorfschule Emmendingen lernen geistig behinderte und nichtbehinderte Kinder zusammen. Die Erfolge sprechen für sich. Dennoch steht das Modell vor dem Aus

VON LUTZ DEBUS

Sarah geht in die 12. Klasse. Ihr Lieblingsfach ist Sport. „Purzelbaum, Radschlag, das kann ich“, sagt die 18-Jährige stolz. Beim Bodenturnen sei sie besonders gut. Sarah hat ein Downsyndrom. Aber sie besucht keine Sonderschule, sondern eine Waldorfschule. Ihre Klassenkameraden bereiten sich bald auf das Abitur vor. Sarah weiß noch nicht genau, was sie nach der Schule machen will, vielleicht eine Ausbildung im Gaststättengewerbe, die speziell für geistig Behinderte konzipiert ist.

In Deutschland gibt es sieben anthroposophisch orientierte Schulen, die sich die Aufgabe besonders zu eigen gemacht haben, behinderte Schüler in den Alltag zu integrieren. Eine dieser Schulen ist die Integrative Waldorfschule in Emmendingen bei Freiburg, die Sarah besucht. In vielen Fächern werden die drei behinderten und elf nichtbehinderten Jugendlichen selbst in der letzten Klasse gemeinsam unterrichtet: Kunst, Informatik, Sport, Musik. Zu anderen Stunden trennen sich die Wege der Schüler. Während die einen Mathe, Englisch und Französisch büffeln, bekommen die anderen speziellen Förderunterricht. Besonders gern mag Sarah das Fach Eurythmie. Manche Mitschülerin ohne Behinderung hat eher eine Abneigung gegen dieses Pflichtfach und findet diese Form künstlerischen Ausdrucks nicht ganz altersgemäß. Aber Sarah ist begeistert. Neben dem normalen Pensum bekommt sie in einer Kleingruppe noch zusätzlich Heileurythmie.

Manchmal, außerhalb des Schulgeländes, stehen für Sarah und die anderen behinderten Schüler ganz lebenspraktische Themen auf dem Lehrplan. Mit Klassenkameraden üben sie Bus fahren und telefonieren mit dem Handy. Wer nicht lesen kann, dem wird vorgelesen. Dafür sitzt in jeder Klasse zusätzlich ein junger Mensch, der ein freiwilliges soziales Jahr ableistet. Doch gerade dieser Luxus ist gefährdet.

Die Integrative Waldorfschule Emmendingen wurde bislang als „Integratives Schulentwicklungsprojekt“ vom Land Baden-Württemberg gefördert. Doch der Modellversuch endet mit diesem Schuljahr. Claudia Heizmann vom Vorstand der Schule ist besorgt: „Wir bekommen keine endgültige Genehmigung für unsere Schule, weil in unserem Bundesland integrative Schulen vom Gesetzgeber nicht vorgesehen sind.“ Zehn verschiedene Sonderschultypen gebe es im Land, da sei Integration nicht populär. Kultusminister Helmut Rau (CDU) versuchte bei einem Schulbesuch zu beschwichtigen. Eine allgemeine Waldorfschule und eine Sonderschule ließen sich gemeinsam unter einem Dach betreiben. Doch durch diese verwaltungstechnische Trickserei, so fürchtet Claudia Heizmann, fallen einige Leistungen weg, die für die Schule wichtig sind. Die Kreisverwaltungen verweisen auf ihre leeren Kassen und würden keine spezielle Eingliederungshilfe mehr zahlen, mit der die Begleiter der behinderten Kinder finanziert werden. Grund: Diese Eingliederungshilfe sei beim Besuch einer Sonderschule nicht mehr nötig – schließlich werde dort nicht eingegliedert. Außerdem, glaubt Heizmann, würde wahrscheinlich die Fahrtkostenerstattung für die Schüler entfallen, die aus dem Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald und aus Freiburg kommen. Begründung der beiden Kreisverwaltungen: Die Kinder könnten vom kommenden Schuljahr an genauso gut eine ortsnahe Sonderschule besuchen.

Für die nächsten Monate bahnt sich also ein Geschacher zwischen Landes- und Kommunalbehörden an. Niemand will die Kosten übernehmen, obwohl eine integrative Schule letztlich billiger ist als eine Sonderschule. Dies belegte eine Untersuchung von Ulf Preuss-Lausitz bereits 1999. Dabei bezog der Erziehungswissenschaftler die Löhne der Lehrer ebenso in seine Berechnung ein wie alle Verwaltungskosten.

Aber auch jenseits der Geldfrage bescheinigten Evaluationsstudien und Mitarbeiter der Schulbehörden der Einrichtung in Emmendingen eine außergewöhnlich gute Lehrqualität. Eltern sammeln inzwischen Unterschriften, um die rettende Änderung im Schulgesetz durchzusetzen. Aber das Schulsystem im „Ländle“ sei über ein Jahrzehnt von einem Sportfunktionär als Kultusminister geprägt worden und sehe keine Integration vor, zürnt ein Vater: „Wie beim Fußball gibt es hier nur Aufsteiger oder Absteiger.“

Dabei, so zeigt sich im Gespräch mit Sarahs Klassenkameradin Isabelle, profitieren auch die nichtbehinderten Schüler von dem integrativen Ansatz. „Emotional sind meine behinderten Mitschüler weiter.“ Es seien warmherzige, ehrliche Menschen, sagt die 17-Jährige. Die Behinderten in der Klasse leisteten viel mehr als die anderen und seien so Ansporn für alle. Bei einem Schulausflug hat Isabelle erlebt, wie eine stark sehbehinderte Mitschülerin eine lange Wanderung mit Begeisterung mitgemacht hat. „Manche von ihnen haben etwas Unschuldiges, sind nicht so korrupt wie andere in meinem Alter.“ In der Waldorfpädagogik gibt es einen speziellen Begriff für Behinderte. Sie werden Seelenpflegebedürftige genannt. „Wirklich seelenpflegebedürftig sind doch eher wir Nichtbehinderten“, sagt Isabelle.