Sturm und Drang der Moderne

Lebte Georg Heym heute, würde er wohl auf einer mit Disco-Musik beschallten künstlich hergestellten Eisfläche Schlittschuh laufen und nicht auf der Havel, in der er dabei gemeinsam mit dem Freund Ernst Balcke am 16. Januar 1912 noch nicht einmal 25-jährig tödlich verunglückte. Expressionistische Lyrik würde er eventuell auch nicht schreiben, ist doch heutzutage nicht die drückende Enge archaischer bürgerlicher Normen das Problem der gebildeten Jugend, sondern eher das Gegenteil dessen: Das wenig Orientierung oder Reibungsfläche anbietende „anything goes“ der Gesellschaft verdeckt die seit der frühexpressionistischen Zeit nicht geringer gewordene Entfremdung in der urbanisierten Welt, und macht sie sogar noch zum kulturellen Programm. Der sensible Künstler verkündet nicht das Chaos – das erledigen Massenmedien und Politik zur Genüge – und auch nicht die Geburt des Neuen und Erlösenden, das erledigt bereits eine alles vereinnahmende Werbewirtschaft.

Aus Anlass des hundertsten Todestages Heyms stellt der unter anderem am Leben des umstrittenen Gottfried Benn biografiegeschulte Autor Gunnar Decker ein Buch über das Leben des Dichters vor und gibt damit Einblick in eine Zeit und den aus ihr geborenen durchaus pathetischen künstlerischen Kommentar, der in den komplexen und vielseitigen Strömungen des literarischen Expressionismus ihren stärksten Ausdruck fand.

■ Georg-Heym-Biografie – Ich, ein zerissenes Meer: 26. Oktober, 20.30 Uhr, Buchhändlerkeller, Carmerstr. 1