Glut unter den Kulissen

Die Deutsche Oper hat die Spielzeit mit einer radikalen Minimaloper eröffnet. Danach diskutierte man angesichts schlechter Presse über die Zukunft des Hauses und der Oper überhaupt

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Die beiden Opernhäuser im Osten haben den Start in die Saison mit Neuinszenierungen ziemlich gut geschafft, nur das Sorgenkind im Westen hinkt nach. Die Hausherrin Kirsten Harms will sich erst am 3. November mit einer eigenen Inszenierung der „Elektra“ von Richard Strauß zu Wort melden, verbunden mit einer Ausgrabung, nämlich der Oper „Cassandra“ des fast vergessenen Komponisten (und Zeitgenossen von Strauß) Vittorio Gnecchi. Thematische und offenbar auch enge musikalische Bezüge der beiden Stücke versprechen zwar einen interessanten Beitrag zur ewigen Debatte, wozu Opern heute und überhaupt noch gut seien, aber vorerst beherrschen andere Nachrichten die Randspalten der Feuilletons: Das Haus an der Bismarckstraße ist vom Fachblatt Opernwelt zum „Ärgernis des Jahres“ gekürt worden – die Komische Oper dagegen darf (zusammen mit Bremen) den Titel „Opernhaus des Jahres“ tragen.

So konnte das natürlich nicht stehen bleiben, weil aber der praktische Nachweis des Besseren noch so lange auf sich warten lässt, bot die Intendanz den Freunden des Hauses, die ihm inzwischen mit der Leidensbereitschaft von Fußballfans die Treue halten, am Samstag einen Ersatz an: Hornfanfaren gehörten dazu, Chorgesang und am Abend eine konzertante Vorschau auf kommende, immerhin mögliche Höhepunkte. Über allem stand der Titel „Pathoskonferenz“, weil im Zentrum des Tages eine Podiumsdiskussion stand, die im Untertitel Auskunft über „die Zukunft der Oper“ versprach.

Zu einem Streit darüber kam es nicht, denn keiner der Referenten zweifelte an dieser Zukunft, schon gar nicht Christoph Schlingensief, der im April seine Inszenierung der bislang noch nie gespielten, Fragment gebliebenen Oper „Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna“ des Komponisten Walter Braunfels vorstellen wird. Zweifellos ein wichtiges Datum dieser Saison, nicht nur wegen Schlingensief, sondern auch, weil es Gelegenheit geben wird, ein von den Nazis unterdrücktes Werk der 40er-Jahre kennen zu lernen. Schlingensief musste sich beim Verleger der Partitur schriftlich verpflichten, keine Note zu ändern, und versicherte treuherzig, dass er ohnehin „noch nie etwas kaputtgemacht“ habe.

Wenn die Grundannahme der Diskussion zutrifft, dass Opern stets pathetisch überhöhte Gefühle, Gesten und Situationen auf die Bühne bringen (für Mozart gilt das nicht, wie der Komponist Wolfgang Riehm zu Recht einwarf), muss man sich bei Schlingensief keine Sorgen machen. „Ich will weinen können“, sagte er vollkommen glaubhaft, und was die Zukunft betrifft, ist für den Modephilosophen Peter Sloterdijk die „musikalische Hochsprache“ des Abendlandes im Schatten der Globalisierung dabei, weltweit die Herrschaft zu übernehmen. Zwar grauste es Riehm sichtlich vor der Vorstellung von Millionen chinesischer Klavierspieler, die demnächst die Konzertsäle überfluten, aber Sorgen um die Oper macht auch er sich nicht. Er warnte nur vor dem Irrglauben, die pathetische Wirkung des „singenden Menschen“ lasse sich planmäßig erzeugen. Sie „ereigne“ sich vielmehr erst im Zusammenspiel von Bühne und Zuschauer, der sich davon ergreifen lasse.

Dass eben das so selten geschah, ist das Problem des Hauses. Die sachkundigen Anmerkungen des Ethnologen Hans Jürgen Heinrichs über die Wurzeln der Oper im Ritus machten diesen Mangel nur noch deutlicher. Interessanter als das anekdotisch aufgelockerte, unverbindliche Gespräch des Podiums war deshalb die Aufführung eines kurzen, aber radikalen Musiktheaters, die davor stattfand. „Infinito Nero“ heißt das Stück des Italieners Salvatore Sciarrino, der Passagen aus den von ihren Ordensschwestern im 17. Jahrhundert aufgezeichneten, religiösen Ekstasen der Heiligen Maria Maddalena de Pazzi für Frauenstimme und Kammerensemble vertont hat. Auf einer Art Prozession durch die Unterwelt eines schlafenden Riesen wurden knapp 100 Gäste über die Bühne in den hintersten Winkel des Magazins geführt und konnten dort eine auf das gerade noch hörbare Minimum reduzierte, eben deswegen wirklich beängstigende Explosion extremer, pathologisch übersteigerter Wahnvorstellungen beobachten.

Das lässt hoffen. Unter den toten Kulissen glüht das Feuer noch. Man muss nur kräftig hineinblasen, damit es wieder vorne lodert in dieser Riesenbühne, deren titanische Ausmaße man erst begreift, wenn man sie einmal so nackt und kahl zu sehen bekommt. „Es werde“, hat danach der Ethnologe Heinrichs vor dem geschlossenen Vorhang gesagt. Hoffentlich hat er Recht.