Gehen, dichten, denken

KLEIST Die Geschichte wohnt um die Ecke: Tanja Langers Lesungen aus ihrem Buch über Heinrich von Kleist und Henriette Vogel

Sie können zusammen sterben, das geht, das schon, zusammen leben können sie nicht

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Wie weit ist ein Ereignis entfernt? 200 Jahre? Das klingt viel. 200 Jahre liegt die Nacht zurück, in der sich Henriette Vogel und Heinrich von Kleist gemeinsam erschossen. Oder tausenddreihundertzwölf Schritte? Das ist nah, so nah, wie die Autorin Tanja Langer am Wannsee entfernt wohnt von jenem Ort, an dem die Tat geschah.

„Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit“ heißt ihr Buch über die letzte Nacht von Henriette Vogel und Heinrich von Kleist. Und es scheint tatsächlich, als sei sie zu Fuß gleich bei sich um die Ecke in deren Geschichte hineingewandert. Denn die Beschreibung einer realen Topografie geht ihrer Fantasie oft dort voraus, wo sie sich in die historischen Gestalten hineinbegibt. Das Gehen und das Schreiben, das Denken im Gehen und das Davoneilen der im Schreiben entwickelten Welten, diese Bewegungen prägen den Text. Und sie prägen die Lesungen, ja Aufführungen eher, mit denen Tanja Langer ihren Text an wechselnden Orten vorstellt, ein zerlesenes Exemplar des eigenen Buches in der Hand. Als ob der Text absolut nicht zwischen zwei Buchdeckeln bleiben wolle. Seit zehn Jahren setzt sich die Schriftstellerin mit Kleist auseinander, schrieb das Libretto einer Kleist-Oper, für die Rainer Rubbert die Musik komponierte, 2008 wurde die aufgeführt. Teile der Oper sind in ihre Lesungen gewandert, die Sänger Thorbjörn Björnsson und Claudia Herr schlüpfen in die Rollen von Kleist und Vogel. In den Gesangspartien, die Rubbert für sie entwickelt hat, sind große Sprünge in den Tonhöhen, die Stimmen klettern wie durch steiniges Gebiet, und doch vergrößern sich die Figuren in ihnen um ein Vielfaches im Verhältnis zu dem, wie der Text sie uns nahebringt. Die Einfühlung und der Blick aus der Distanz, die vertraute und die historische Person, beides setzt Langer in ihrem Text nebeneinander, die Bruchkanten dazwischen bewusst stehen lassend. So zieht ihre Lesung die Vorstellung des Zuhörers immer wieder so nahe in die Figuren rein, dass man jede ihrer Regungen zu verstehen glaubt – bis das Spiel der Sänger, die Anstrengung ihrer Stimmen den Illusionsraum wieder bricht. Da merkt man, dass Langer auch Erfahrung als Regisseurin von Theater und Hörspielen hat.

Einmal sitzen Thorbjörn Björnsson und Claudia Herr nebeneinander auf zwei Stühlen. Sie wirft sich plötzlich in seinen Schoß, er in ihren, alles nur für Sekunden. Sie sind kein Paar, sie wären vielleicht gern eins, genießen den Zustand kurz im Spiel, aber was dem an inneren und äußeren Hindernissen entgegensteht, davon erzählt der Text lebensklug. Sie können zusammen sterben, das geht, das schon, zusammen leben können sie nicht.

Tanja Langers Buch ist nicht nur eine Liebeserklärung an den Dichter, sondern auch an das Dichten. Wie sie sich ausmalt, wie ihn seine Stoffe besetzen, wie Neugierde ihn treibt und ihn das Schreiben selbst da noch als Glück sich erleben ließ, wo er in Gefangenheit saß, gehört zu den plastischsten Momenten ihres Buches und ihrer Lesungen.

■ „Wir sehen uns wieder in der Ewigkeit“ ist erschienen bei dtv. Nächste Lesungen: 21. 11., 20 Uhr, Mutter Fourage, Chausseestr. 15a; 25. 11., 20 Uhr, Hauptstadtoper, Rungestr. 12