Ein Ausflug ins Grauen

Empfehlenswert für stadtmüde Urbanisten, HobbyzoologInnen und Horrorfetischisten: Herbstliches Kranich-und-Wildgänse-Watching im storchfreien Storchendorf Linum

Kennt man ja. Stadtmüde Urbanisten beschließen, einen Ausflug ins Grüne zu unternehmen, raus vor die Tore der großen Stadt. Dort treffen sie einerseits auf andere, ältere stadtmüde Urbanisten, andererseits auf mürrische Landbewohner, eine verstörte Jugend, die üblichen Nazis und allerlei skurrile, unheimliche Dinge mehr. Platziert in eine Scheinidylle, in der hinter jedem Gebüsch ein Abgrund lauert, fühlt man sich schnell in den Plot eines mittelmäßigen Horrorfilms versetzt. „Die Nacht der Todeskraniche des Grauens“.

Kraniche? Kraniche. Wir waren hoch ins Storchendorf Linum gefahren. Das liegt zwischen Hennigsdorf und Fehrbellin nordwestlich von Berlin. Die Störche waren allerdings schon Richtung Süden unterwegs und hatten nichts als leere Horste auf den Schornsteinen hinterlassen. Zum Ausgleich gab es Wildgänse. Und eben Kraniche. Die kommen vom Norden her und legen hier im Brandenburgischen eine Rast ein, weil die Landschaft so toll ist. Es gibt nämlich viel unberührte Natur, unendlich viele Felder und große Teichlandschaften, in denen die Flügeltiere nächtigen, bevor sie sich über die Maisfelder hermachen.

Tatsächlich lag ein permanentes Schnattern und Tröten über dem kleinen, ökologischen Vorzeigedorf. Oben zogen Kranichschwärme herum, unten saß man auf der Veranda der „Storchenklause“ bzw. der „Pension Adebar“ oder stöberte durch den Hofladen, in dem Kürbis und anderes Gruselgemüse auslag.

Was irritierend fehlte: die mürrischen Landbewohner. Im Gegenteil schienen alle recht freundlich. Fast jedes Häuschen hatte ein leeres Storchennest auf dem Dach – vielleicht beschützt so was ja. Die Häuschen sind renovierte, alte Bauernhäuser mit niedrigen Türen, auf dem Land wird man wohl nicht größer als 1,75. Was ebenfalls fehlte: die verstörte Landjugend. Vielleicht war die schon nach Berlin abgehauen oder hing irgendwo in Kremmen, der nächstliegenden Kleinstadt, herum.

Allerdings gab es Monsterspinnen des Grauens. Es waren zwar keine zu sehen, dafür durchzogen ihre Spinnweben das ganze Dorf. Einzelne, grobe Fäden schwebten hinterlistig durch die Luft. Von irgendwoher kamen Spinettklänge. Ein Theremin setzte ein. Schlotternd erreichten wir die Kirche des Dorfs. Ein sinistrer Backsteinbau, groß und gotisch, und davor eine irre Nonne, die mit zerfurchten Händen unschuldige Passanten zu einem Rundgang hineinlockte. In der Kirche sah es harmlos aus: Die Kundschaft hatte ihre Stammplätze mit hindrapierten Sitzkissen gesichert, die Wände sahen protestantisch leer aus, dem Organisten blühte eine Heimorgel von Technics.

Und die Nazis? Fehlten auch. Immerhin gab es ein martialisches Kriegerdenkmal genau vor der Todeskirche des Grauens. „Den tapferen Heldensöhnen der Gemeinde Linum“, darunter gut dreißig Namen im 1. Weltkrieg jung Gefallener. An der Kirche war eine Gedenktafel für Luise Hensel, die Dichterin des Lieds „Müde bin ich, geh zu Ruh“, angebracht. So viel zur Kultur.

Ziel des Ausflugs war die Kranichführung zum Abend. Kundige BiologInnen führten aufgeschlossene TouristInnen in ein Brachfeld des Grauens, wo es die zum Sonnenuntergang heimkehrenden Kraniche zu sehen gab (leider nur in angemessener Entfernung). Der Kranich (Grus grus) zog in ruhiger Gleitflugformation mit maisgefülltem Bauch heim in den Teich. Was allerdings nicht ohne das typische Trompeten abging. Es klang wirklich, als ob die Vögel ganze Blechblasorchester verschluckt hätten. Daneben flogen die Gänse, die die runderen Bäuche besitzen, mehr flattern und eher quäken. Auch ziemlich laut allerdings.

Spätestens jetzt hatte sich der Ausflug gelohnt. Das Merkwürdige war einer angenehmen, schulähnlichen Situation gewichen. Man stand herum, glotzte, fror, riss heimlich dumme Witze und entspannte sich. Linum entpuppte sich als Paradies für Wandervögel und Hobbyzoologen – neben dem Federvieh gab es noch Frösche und Unken, Biber, Fische, allerlei Insekten und Ringelnattern zu sehen. Kein Pflichttermin, aber durchaus eine angenehme Alternative zu Rockkonzerten und Partynächten. Weniger gruselig als erwartet, dafür erholsam und gesund.

RENÉ HAMANN