Welches Tier soll ich denn anschreien?

LYRIK Gut bei Wüstheit im Kopfe sowie bei zarter Gewissenhaftigkeit: Gerhard Falkner besingt das Schillern der Aminosäuren – „Ignazien“

Wer auf Weltkarten nach einem Land Ignatien sucht, wird nicht fündig werden. Das Ignatien des Lyrikers Gerhard Falkner ist ein poetisches Kunstprodukt und vielleicht die Erfindung einer neuen Lyrik-Gattung. „Ignatie“ bezieht sich auf Ignatia amara, auch Ignazbohne oder Brechnuss genannt, eine Pflanze, die Strychnin enthält und deshalb in höherer Konzentration tödlich sein kann. In homöopathischen Dosen aber entfaltet sie einen wundersamen Wirkungsreichtum.

Im Anhang des Bandes ist eine Schrift des Begründers der Homöopathie, Christian Friedrich Samuel Hahnemann abgedruckt. Demnach ist die Ignazbohne bei „Wüstheit im Kopfe“, „Jücken am After und im Mittelfleische“ und bei Impotenz ebenso angeraten wie bei „Steifigkeit der männlichen Ruthe beim zu Stuhle gehen“, bei heftigem Aufstoßen und „Aufschwulken bitterer Feuchtigkeit“, vor allem aber bei Gemütseintrübungen und Nervenerregungen aller Art, bei Angstzuständen, Atemnot, traurigen Träumen, Zaghaftigkeit, Griesgrämigkeit und „zarter Gewissenhaftigkeit“.

Falkners „Elegien am Rande des Nervenzusammenbruchs“ zeitigen ähnliche Wirkungen – oder sind aus derartigen Stimmungen heraus entstanden. Sie sind gewissermaßen Naturprodukte, die auf Geist und Sprache zielen und die technische Verfasstheit der Welt in den Blick nehmen. Sie bewegen sich zwischen Amok und Psyche, zwischen David Lynch und Leukozyten, zwischen Engeln und Epidermis. Griechische Mythologie ist ebenso präsent wie Trivialkultur und digitales Rauschen und die Zeichenhaftigkeit der Dinge. Und inmitten des Chaos der Welt versucht das sprechende Ich sich zu orientieren. Damit setzt Falkner ein: „Wer, wenn nicht ich, hörte mich denn / aus der Enge der Ordnungen / dem Ingrimm der Zeichen / in entsprechender Zeit? / Wer führte mich denn / aus der Unhintergehbarkeit / von Sprache / ins endlich Offene – Welches Tier soll ich denn anschreien?“

Alles ist Sprache

Das klingt nicht zufällig nach Rilke und dem Tonfall der Duineser Elegien. Die neunte Ignatie, in der es um Engel geht, ist eine direkte Replik auf Rilke, der ja einen recht intimen Umgang mit Engeln pflegte. Und auch Hölderlin ist in der Bewegung, die ins Offene führt, nicht fern. Nach der „Hölderlin Reparatur“, einem Gedichtband aus dem Jahr 2008, ist Falkner nun bei der Rilke-Reparatur angekommen. Auch Benn und Celan klingen nach.

Alles ist Sprache bei diesem 1951 geborenen Lyriker aus dem Fränkischen, der zuletzt mit einem fulminanten Zyklus über den Pergamon-Fries hervorgetreten ist. Auch Chromosomensätze sind für ihn eine Grammatik, so wie die Buchstaben des Alphabets sich auf die Buchenstäbchen zurückführen lassen, die den Frühmenschen als Zeichen dienten. All das wird bei Falkner zu Gedichten, in denen die Sprache sich selbst zu fassen sucht und auch so unfassbaren Phänomenen wie Seele und Liebe eine Wirklichkeit zugesteht. Das melancholische Motto von Heinrich von Kleist, das dem Band vorangestellt ist, zieht sich als Grundton durch: „Ach, ich trage mein Herz mit mir herum wie ein nördliches Land den Keim einer Südfrucht.“ Aber Falkner beherrscht auch andere Temperaturen: eine hypernervöse, manchmal fast hysterische Aufgeregtheit ebenso wie aggressive Wut gegen alles Sprach- und Gesellschaftszerstörerische, was ja in etwa identisch ist.

Manchmal ist er dabei ein bisschen zu sehr auf Effekte aus und lässt sich dazu verleiten, Ideen zu illustrieren oder in Spielereien abzugleiten, anstatt sich der Führung der Sprache zu überlassen. Dadurch entstehen Brüche, die aber die Kraft des Ganzen nicht mindern, ja, die auch gewollt sind, weil die den hohen Ton des Rilke-Adepten immer wieder herunterholen.

Falkner macht es den Lesern nicht leicht. Die Gedichte sind verrätselt und entziehen sich dem raschen Verständnis. Das ist Absicht: Sie sollen der Konsumierbarkeit Widerstand entgegensetzen und auch über Klang und Rhythmus wirken. Ein Gedicht mit dem Intellekt knacken zu wollen, hat Falkner einmal gesagt, das wäre so, wie wenn man einen Apfel mit den Ohren essen würde. Allerdings – so ist zu ergänzen, essen die Ohren sehr wohl mit, wenn denn der Apfel wirklich knackig ist.

Illustriert ist der Band mit Videostils von Yves Netzhammer: geometrische Muster und roboterhafte Figuren, die in ihrer künstlichen Körperhaftigkeit an Bilder von Oskar Schlemmer erinnern. Dazu gibt es auch noch die englischen Übersetzungen der Elegien von Ann Cotten, die in einem der Verse auch selbst vorkommt: „Der Unterschied zwischen Ann Cotten und Jerry Cotton“, so heißt es da, „ist, genetisch gesehen, irrelevant.“ Denn alles ist ja das „gleiche trügerische Schillern von Aminosäuren.“ Das Wunder aber besteht darin, dass aus den Proteinen so etwas wie Sprache entsteht, und aus der Sprache eine ganze Welt. Da kann man schon mal einen Nervenzusammenbruch erleiden. JÖRG MAGENAU

■ Gerhard Falkner, Yves Netzhammer: „Ignatien. Elegien am Rande des Nervenzusammenbruchs“. Translated and, but rarely, transmuted by Ann Cotten. starfruit publications, Fürth 2014, 130 Seiten, 19,90 Euro