Der Kampf um Riga

Die baltische Filmindustrie bringt schöne Kunstfilme hervor, Blockbuster lassen noch auf sich warten. Das Baltic Film Festival zeigt eine Auswahl

VON DIETMAR KAMMERER

Seit mehr als vierzig Jahren dreht Herz Frank Filme, legendär wurde seine zehnminütige, ungeschnittene Einstellung auf einen Jungen. Der lettische Dokumentarfilmer ist der Begründer und berühmteste Vertreter der „Rigaer Schule des poetischen Dokumentarfilms“, sein Werk wird vom Baltic Film Festival Berlin nun mit einer Hommage bedacht. Was der Junge in Franks Klassiker sieht, ist ein Puppenspiel. Was wir sehen, ist sein Gesicht, inmitten eines Kinderpublikums.

Die Musik und die Geräusche, die von der Bühne kommen, wechseln rasch durch alle Stimmungen, das Kind ist ganz in ihrem Bann: erstaunt, zu Tode erschreckt, weinend, beglückt, fasziniert und völlig gefangen von dem, was es zu sehen und zu hören bekommt. Sein Gesicht ist ein vollkommener Spiegel seiner Emotionen. Wohl niemals hat ein Film eindringlicher das Abenteuer des Zusehens eingefangen. Sein Protagonist ist dabei nicht nur „Ten Minutes Older“ – so der Titel – geworden. Er ist durch ein Leben von Erfahrung, Mitleid, Empfindungen gegangen, das eigentlich erst noch vor ihm liegt.

Der Blick aufs Weltkinogeschehen richtet sich gerne in die entferntesten Regionen, nach Thailand und China etwa, oder nach Argentinien, Mexiko, Neuseeland. Was uns näher liegt, die Länder gleich hinter unseren Nachbarn in Osteuropa, wird dabei gern übersehen. Dabei haben die EU-Mitglieder Lettland, Estland und Litauen nicht nur bereits zu Sowjetzeiten eine vielfältige Filmtradition entwickeln können. Auch das gegenwärtige baltische Kino ist eigenständig, individuell und innovationsfähig, schwärmt Gudrun Holz, die engagierte Leiterin des Baltic Film Festival Berlin, das heute Abend zum zweiten Mal eröffnet wird und mit mehr als 40 Kurz- und Spielfilmen, Animationen und Dokumentationen eine reiche Übersicht über das Filmschaffen der drei Länder liefert.

Von internationalen Produktionsfirmen wird Lettland, dem der diesjährige Schwerpunkt des Festivals gewidmet ist, schon länger ins Visier genommen. Werner Herzog war schon da, auch Daniel Craig stand dort vor der Kamera. Zurzeit dreht Hermine Huntgeburth in Lettland Teile ihrer Fontane-Verfilmung „Effi“. Punkten kann man dort mit niedrigen Arbeitskosten, motiviertem Personal und professioneller Technik.

Hollywood regiert

Falls dennoch einmal Equipment oder Fachwissen fehlen sollte, kann immer etwas arrangiert werden, sagt Ilze Holmberg, Direktorin des National Film Centre in Riga. Dann helfen sich die Nachbarländer untereinander aus: Innerhalb der baltischen Staaten sei man ohnehin eng vernetzt, aber auch mit Finnland, Schweden und Polen gebe es regen Austausch, so Holmberg.

Woran es noch hapert, sind Eigenproduktionen. Bis vor wenigen Jahren gab es praktisch keine Filmförderung, nun scheint die Regierung umzudenken und hat seit 2004 die finanzielle Unterstützung verdoppelt. Umgerechnet 2,2 Millionen Euro lässt der Staat für die sich entwickelnde Filmindustrie springen. Keine gewaltige Summe, aber die Jahresproduktion konnte damit von vier auf jetzt sieben abendfüllende Spielfilme gesteigert werden – mehr als je seit der Unabhängigkeit. Auswirkungen des Filmbooms erhofft man sich auch in anderen Branchen: So unterstützen die Fluglinie Baltic Air und das Rigaer Hotel Bergs das Baltic Film Festival, weil Filme eben auch die touristischen Aushängeschilder eines Landes sind.

Doch bleibt ungewiss, ob die Zuschauer die Bemühungen honorieren werden. Lettische Filme sind weit davon entfernt, im eigenen Land auch nur in die Nähe der Top-Ten-Charts zu gelangen, die wie überall von Hollywood beherrscht werden. Lettischer Film ist Arthouse-Film, sagt Holmberg und ergänzt: Der läuft zwar weltweit gut auf Festivals, aber zu Hause floppt er regelmäßig. „Wir müssen in Zukunft Filme unterstützen, die das Publikum wirklich sehen will“, sagt die Direktorin. Hoffnungen setzt man zurzeit vor allem auf die Großproduktion „Defenders of Riga“, ein Epos aus dem Ersten Weltkrieg, als die Wehrmacht zum Sturm auf Riga blies und die weit unterlegene, scheinbar chancenlose lettische Armee, unterstützt von tausenden Freiwilligen, die Stadt erfolgreich verteidigte. Derart patriotische Heldengeschichten sind natürlich Balsam für eine Nation, deren Gebiet jahrhundertelang von Großmächten besetzt wurde. Seit Jahren schon wird an dem Schlachtendrama, für das eine eigene Kulissenstadt im Südosten Rigas aus dem Boden gestampft wurde, gearbeitet, der Filmstart wurde immer wieder verschoben. Ob das Publikum dann endlich strömen wird, wird sich zeigen.

Jetzt schon zu sehen ist der Spielfilm „The Hostage“. Ganz welterfahren wirkt dort der Junge, der sich freiwillig einem Flugzeugentführer als Geisel anbietet – gegen das Versprechen, Schokolade und einen Sprachkurs auf CD zu bekommen. Laila Pakalninas Film wirbelt respektlos lettische Folklore, Sportbegeisterung, Bienenzucht und Elemente des Actionkinos durcheinander und stellt landestypische Klischees auf den Kopf. Mit größerem Ernst stellt sich die Dokumentation „Us and Them“ von Antra Cilinska der Frage: Wer sind wir jetzt, da wir unabhängig sind? Noch immer scheint das Land gespalten zu sein, in die lettische Mehrheit und eine russische Minderheit. Doch die Fronten verlaufen keineswegs eindeutig: Auf den Straßen demonstrieren russische Jugendliche für ihr Recht auf eigenen Sprachunterricht, während das russische Theater hauptsächlich für ein lettisches Publikum spielt. Die Grenzen von Staaten, Kulturen und Zeiten gänzlich hinter sich lässt der „Jade Warrior“: ein estnisch-finnisch-chinesisches Kung-Fu-Drama über einen Schmied, einen Dämon, das antike China und das heutige Finnland, das beweist: Auch das baltische Kino ist im Weltkino angekommen.

Baltic Film Festival Berlin, 18. bis 23. Oktober im Kino Babylon Mitte, Rosa-Luxemburg Str. 30. Eröffnet wird heute um 19 Uhr mit „Ten Minutes Older“ und „The Hostage“. Weitere Vorführungstermine der erwähnten Filme: „Jade Warrior“, Samstagnacht ab 24 Uhr; „Us and Them“, Sonntag, 16 Uhr (zusammen mit der Dokumentation „My Husband Andrei Sakharov“). Programm: www.balticfilmfestivalberlin.net