„Hier traue ich mir Sachen zu, die ich sonst nie machen würde“

JUNGE AKTEURE Immer mehr Kinder und Jugendliche zieht es auf die Bühnen großer Theater. Dabei erwarten sie heutzutage eher feste Vorgaben als früher

VON JOACHIM GÖRES

Jugendclubs an deutschen Theatern können sich vor Kindern und Jugendlichen kaum retten. „Ohne Casting geht es bei dem großen Ansturm nicht. Für manche Stücke haben wir mehr als 50 Bewerber, die können nicht alle mitspielen“, sagt Nathalie Forstman, Leiterin der Jungen Akteure am Theater Bremen.

Auch für das Stück „Kinder/Soldaten“ musste Regisseur Gernot Grünewald eine Auswahl treffen. Auf der Bühne des Bremer Theaters vermitteln die zehn bis 18 Jahre alten Schauspieler nach mehrmonatigen Proben überzeugend den selbst erarbeiteten drastischen Stoff – das massenhafte Töten von Feinden durch zwangsrekrutierte afrikanische Kinder in einem Bürgerkrieg – in einem gelungenen Wechsel von ruhiger eindringlicher Schilderung und gewalttätigen Szenen. Die eigene Person wird dabei nicht ausgespart – im Hintergrund eingeblendet erzählen die 17 Kinder und Jugendlichen, was sie über die Gründe von Kriegen denken und ob sie sich vorstellen können zu töten.

Bei den Jungen Akteuren gibt es insgesamt acht Gruppen für jeweils 14 Interessierte ab acht Jahren – im Gegensatz zur Produktion „Kinder/Soldaten“ bekommen diejenigen einen Platz, die sich zuerst melden. „Beim letzten Mal mussten wir rund 30 Mädchen und Jungen leider wegschicken. Und es werden immer mehr, die bei uns Theater spielen wollen“, sagt Forstman.

„Früher hat unser Jugendclub sein Stück achtmal vor Publikum aufgeführt“, sagt Anja Deu. „Da konnten Schüler auch mal eine Woche im Unterricht fehlen. Das ist heute schwieriger, wir spielen nur noch viermal. Die Vorstellungen sind fast immer ausverkauft.“ Vor neun Jahren fing sie am Theater Osnabrück als einzige Theaterpädagogin an, heute hat sie drei Kollegen. Es gibt noch eine Gruppe für Haupt- und Realschüler und eine Kindertheatergruppe. Der Kontakt zu Schulen sei viel enger geworden, pro Spielzeit besuchten 41 Partnerschulen eine Vorstellung. „Ein Drittel des Publikums sind bei uns Kinder und Jugendliche, so ein hoher Anteil ist fast einzigartig in Deutschland“, sagt Deu.

Sie legt im Jugendclub Wert auf das gemeinsame Erarbeiten von Stücken, in dem verschiedene Stoffe und Varianten einfach ausprobiert werden. „Für Jugendliche ist es spannend, sich mit realen Menschen zu beschäftigen. Wir haben ein Stück zur RAF gemacht, bei dem sich viele die Frage stellten, wie es zu der Gewaltspirale kommen konnte“, sagt Deu, die den Ausbau der Jugendarbeit an deutschen Theatern in den letzten Jahren lobt und zugleich warnt: „Es ist eine gefährliche Entwicklung, wenn Jugendclub-Stücke im Spielplan die Aufführungen der Profi-Schauspieler ersetzen, weil Stellen gestrichen werden.“ In Bremen stand „Kinder/Soldaten“ zehnmal im Programm, in anderen Städten werden Jugendclub-Aufführungen bis zu 20 Mal auf der Hauptbühne gezeigt.

„Vor einigen Jahren wurden eigene Probleme wie die erste Liebe oder Ärger mit den Eltern auf die Bühne gebracht“, sagt Katja Heiser. „Das war zuerst total erfrischend, wurde dann aber immer mehr. Inzwischen sind die Stücke politischer geworden“, so die Theaterpädagogin am Staatsschauspiel Dresden und Jurorin beim Bundestreffen der Theaterjugendclubs in Hannover. Für dieses jährlich stattfindende Festival hatte die Jury unter anderem Stücke über Sexismus, Kindersoldaten und Menschen mit und ohne Behinderung, aber auch Klassiker wie „Kabale und Liebe“ oder „Michael Kohlhaas“ ausgewählt. „Der Trend geht zu Textvorlagen. Die Jugendlichen erwarten feste Vorgaben, die sie dann engagiert umsetzen“, sagt Matthias Heine, vom Jugendclub am Cottbuser Kinder- und Jugendtheater Piccolo. „Früher gab es mehr Widerspruch, die Proben waren wichtiger. Heute zählt vor allem das Ergebnis.“

80 Prozent seiner jungen Schauspieler wollen das Abitur machen, wie in den meisten Jugendclubs sind Haupt- und Realschüler eher selten. Was treibt Kinder und Jugendliche eigentlich trotz voller Stundenpläne über Monate regelmäßig zu den Proben? Für die 14-jährige Liv vom Jugendclub Hannover ist die Antwort einfach: „Hier traue ich mir Sachen zu, die ich sonst nie machen würde.“