Alles eine Frage der Gelegenheit

Ein seit 17 Jahren unermüdlich erprobtes nomadisches Raumkonzept: „Bremens Erstes Schulübergreifendes Theater“ gilt als bundesweit einmaliges Modell. Alles, was in Bremen leer steht, kommt als zu erobernder Spielort in Betracht

Preisfrage: Viele, sehr viele leere Löcher übereinander, was ist das? Genau. Seit die Bremer BibliothekarInnen ihre Regale in der Neustadt abgeschraubt und in der neuen Zentralbücherei wieder angedübelt haben, steht das lang gestreckte Gebäude ungenutzt herum. Das macht es zum Fall für Karl-Heinz Wenzel. Der okkupiert seit 17 Jahren markanten Leerstand, um ihn mit Theater zu füllen. Mit spielenden Jugendlichen. Im Ex-Knast haben sie sich dem Thema „Zellteilung“ gewidmet, im vakanten Tchibo-Hochregallager mit „Abschieden“ beschäftigt und in einer Großraumdisko ihre „GeschlechterGefechter“ ausgekämpft. Um „LebenLeben“ geht es nun in der verwaisten Bücherburg.

Wer zuschauen will, muss zuerst eine Bücherwand einreißen. „Achten Sie bitte darauf, dass Ihnen keine Bücher auf den Kopf fallen“, steht auf dem Zettel mit den „Hinweisen“, den alle BesucherInnen bekommen. Das Publikum ist nicht zimperlich, sind ja selbst fast alles Jugendliche, die jetzt in den Raum drängen, um sich dort mit einer seltsamen Szenerie konfrontiert zu sehen. 14 Menschen mühen sich mit allen möglichen abstrusen Hausarbeiten ab und schreien dabei: „Ich krieg’ meinen Arsch nicht hoch. Echt nicht!“ Dann rennen alle zu kleinen Tischchen, nehmen eine Rose zur Hand und führen beziehungstechnische Vermittlungsgespräche.

Das Publikum rennt mit: Theaterkonventionen liegen Karl-Heinz Wenzel, dem Regisseur und Initiator des Ganzen, ohnehin nicht so. Sein Konzept eines „anderen Jugendtheaters“ setzt auf individuelle Wahrnehmungsperspektiven, auf eine eher fragmentarische Dramaturgie, körperlichen Einsatz – und eine möglichst große Heterogenität der TeilnehmerInnen. Deswegen nennt sich die Truppe auch Bremens Erstes Schulübergreifendes Theater (Best): Neben den unvermeidbaren GymnasiastInnen sollen auch BerufsschülerInnen und sonstwie adoleszente Menschen einbezogen werden.

Denn seinen erzählerischen Honig saugt das Theater aus den biographischen Erfahrungen der Einzelnen. Zum Beispiel aus Leonas Landschulheimaufenthalten: „Ich hatte 20 Mückenstiche, aber das macht ja nichts, das war total schön da, nur meine Eltern hatten sich getrennt, als ich zurück kam, aber an der Mauer, die sie im Wohnzimmer aufgebaut hatten, konnte ich ja meine Bilder aufhängen.“

Und schon geht es weiter mit einer raumgreifenden Zahnputz-Szene, bei der die ProtagonistInnen ihre Geworfenheit in den Alltag reflektieren. Lineare Erzählstrukturen waren noch nie Wenzels Anliegen, und das Erstaunliche ist die Dichte, die seine Inszenierungen dennoch erreichen: Man hat tatsächlich das Gefühl, eher mehr als weniger Existentielles von einer Generation zu erfahren, der man selbst seit Geraumem nicht mehr angehört. Auch in Bezug auf die primäre Zielgruppe scheint das theatrale Konzept aufzugehen: So viel Jugend, nicht von Lehrern begleitet, wie jetzt war zu Zeiten der Stadtbibliothek wahrscheinlich nie hier.

Man soll sich ohnehin nicht täuschen: Wenn eine Beziehungs-Auseinandersetzung mit einem lakonischen „Es war also doch die Lerche!“ endet, funktioniert der hochliterarische Verweis offenbar auch ohne gymnasiale Pflichtlektüre im Kopf. Auch hat niemand ein Verständnisproblem, wenn eine Frau ins Klo kotzt und dann vom Selbstmord ihres Bruders erzählt. Das herumlaufende Publikum, jeder ritualisierten Theatersituation enthoben, bleibt bei der Sache – so amüsiert wie schockiert.

„Interessante Gegenstände, die Sie finden, sind im Zweifelsfall unsere Requisiten“, das steht auch auf dem Zuschauerzettel. Das Klo will sich niemand unter den Arm klemmen, aber bei all’ den zu Türmchen aufgestapelten Büchern ist das schon was anderes. Bildung ist eine Frage der Gelegenheit. Und wenn man schon mal hier ist. HB

Weitere Aufführungen: heute und morgen, 20 Uhr, ehemaligen Stadtteil-Bibliothek Neustadt, Friedrich-Ebert-Straße 101, Bremen