: Um Ruhm und Ehre betrogen
MATTERHORN Wenn dieses Jahr der 150. Jahrestag der Erstbesteigung begangen wird, soll endlich auch die Geschichtsschreibung korrigiert werden. Die Einheimischen fordern ihr Recht ein
■ Unterkünfte: Zermatt ist ein mondänes – und nicht gerade billiges – Bergdorf. Günstiger kann man in Täsch, dem Nachbarort von Zermatt, der mit der Bahn leicht erreichbar ist, Hotels, Pensionen und Ferienwohnungen finden. Das Gastgeberverzeichnis sowohl von Zermatt als auch von Täsch findet sich im Internet auf: www.zermatt.ch
■ Matterhorn: Eine Besteigung des 4.478 Meter hohen Berges setzt große alpinistische Fähigkeiten und eine sehr gute Kondition voraus. Auch wenn diese beiden Voraussetzungen erfüllt sind, ist es unbedingt angeraten, nur mit einem ausgebildeten Bergführer die Besteigung zu wagen. Nähere Informationen finden sich auf: www.alpincenter-zermatt.ch
■ Hörnlihütte: Die Hörnlihütte, hinter der der Einstieg ins Matterhorn beginnt, ist im Sommer und bei guten Wetter für geübte Bergwanderer einfach zu erreichen. Von der Seilbahnstation Schwarzsee dem markierten Weg folgen. Im Sommer ist die Hörnlihütte bewirtschaftet, nach ihrem Umbau wird sie im Juli 2015 wiedereröffnet. www.hoernlihuette.ch
■ Die Recherchen zu diesem Text wurden unterstützt von Schweiz Tourismus www.myswitzerland.com
VON MARTIN KRAUSS
So sieht also Alpingeschichte aus: blaue Softshelljacke, freundliches Gesicht, hagerer, durchtrainierter Körper und ein Rucksack, der über der Schulter hängt. Gianni Mazzone aus dem schweizerischen Zermatt ist Nachkomme der Erstbesteiger des Matterhorns, Peter Taugwalder Vater und Peter Taugwalder Sohn. Dass die beiden Vorfahren des 50-jährigen Gianni Mazzone vor 150 Jahren dabei waren, als der Gipfel des vermutlich schönsten Berges der Westalpen erklommen wurde, ist sicher. „Als Erstbesteiger aber gilt Edward Whymper“, sagt Mazzone. „Das ist schade, aber das ist so.“ Doch es soll nicht so bleiben.
Gianni Mazzone, der wie seine Vorfahren als Bergführer in dem mittlerweile mondänen Ort im Kanton Wallis lebt, kämpft für die Anerkennung der Leistung seiner Vorfahren. Nicht nur der Engländer Whymper soll als Bezwinger des 4.478 Meter hohen Berges gelten, auch die einheimischen Bergführer sollen nicht vergessen werden. „Unfair, total unfair“ nennt Mazzone die Überbetonung Whympers. Ohne Vater und Sohn Taugwalder wäre der gefeierte Gentleman aus London nie am 14. Juli 1865 das Matterhorn hinaufgekommen.
Die Gruppe, die Whymper etwas hektisch zusammengestellt hatte, als er hörte, dass von italienischer Seite eine Erstbesteigung geplant war, bestand nicht gerade aus erfahrenen Bergsteigern: ein englischer Lord, ein englischer Reverend und ein 19-jähriger Junge, auch aus England. Damit es mit dieser Gruppe halbwegs klappen würde, hatte Whymper noch die zwei Taugwalders aus Zermatt und den Bergführer Michel Croz aus dem französischen Chamonix verpflichtet. „Zur damaligen Zeit waren diese drei sehr, sehr bekannte und erfahrene Bergführer“, sagt Gianni Mazzone.
Doch beim Abstieg riss ein Seil. Vier aus Whympers Gruppe stürzten in die Tiefe. Es überlebten nur die Taugwalders und Whymper selbst. Der Engländer erhob in einem mit hoher Auflage verbreiteten Buch schwere Vorwürfe: Taugwalder Vater habe das Seil durchgeschnitten, behauptete er. Es kam zum Prozess, Whymper konnte seine Version nicht halten, ja, das Gegenteil war richtig: Geistesgegenwärtig hatte Taugwalder Vater vor dem Absturz das Seil hinter sich um einen Felszacken gewickelt und so Whymper das Leben gerettet.
Aber um den Ruf der Einheimischen zu ruinieren, hatten Whympers Angriffe doch genügt: Als Bergführer bekamen sie von den englischen Touristen wenige bis keine Aufträge mehr. „Er ist dann nach Amerika ausgewandert“, erzählt Mazzone über Taugwalder Vater. Auch als er Jahre später zurückkam, war die Wunde nicht verheilt. „In unserer Familie wurde nie davon gesprochen“, berichtet Mazzone, „vielleicht aus Scham.“ Mazzones Großvater, geboren 1904, hatte Peter Taugwalder Sohn, der in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts starb, noch gut gekannt. Aber erzählt hatte der Erstbesteiger von seinem und seines Vaters Trauma nie.
Es hat schon etwas von den ganz großen Stoffen der Mythologie: Mit dem Matterhorn, seiner Besteigung und Erschließung gelang dem verarmten Weiler Zermatt im abgelegensten Winkel des abgelegenen Mattertals der Aufstieg zu einem der berühmtesten Bergdörfer der Welt – mit Hotels, Restaurants, Seilbahnen, Skipisten. Aber die, die diese Entwicklung möglich gemacht hatten, Vater und Sohn Taugwalder, zerbrachen daran.
Jetzt, 150 Jahre später, sieht es so aus, als könnte es endlich zu einer Rehabilitierung der Taugwalders kommen. „Wir wollen die Geschichte des Berges etwas korrigieren“, sagt Daniel Lucken, Kurdirektor von Zermatt. Deswegen wird es zu den Feierlichkeiten im Juli am Riffelberg bei Zermatt das Freilufttheaterstück „The Matterhorn Story“ geben, bei dem viele Einheimische mitspielen und das die zwei Taugwalders und den abgestürzten Bergführer Michel Croz ins historische Recht setzt.
Damit die Fakten stimmen, haben sich die Veranstalter mit einem Historiker zusammengetan, für die Inszenierung ist die Schweizer Regisseurin Livia Anne Richard verantwortlich, eine Spezialistin für solche Stoffe.
„Hoffentlich hilft das und führt zu einer Richtigstellung, sagt Gianni Mazzone; der Urururenkel hat Grund zu Optimismus. Bei der Frage, wie die 150-Jahr-Feier gestaltet werden soll, präsentiert sich das kleine Zermatt nämlich bemerkenswert einhellig und sehr entschlossen.
Kurdirektor Lucken erzählt, welche Ideen an ihn herangetragen wurden und was er alles abgelehnt hat: Ein Schweizer Hochseilartist etwa wollte auf einem Drahtseil vom Kleinmatterhorn in 3.883 Meter Höhe auf das 600 Meter höhere große Matterhorn gehen, eine Art neue Erstbegehung. „Das wäre eine Riesengeschichte gewesen. Aber so etwas wollten wir nicht“, sagt Lucken. „Wir wollen lieber die Geschichte des Berges aufarbeiten.“ Und der Limokonzern Red Bull habe gar nicht erst gefragt: Sein Event für Gleitschirmflieger, die „Red Bull X-Alps“, hat das Matterhorn einfach zur Wettkampfstation gemacht.
Dem ganz großen Rummel um den berühmtesten Berg der Alpen wird sich Zermatt ohnehin nicht entziehen können. Es will das auch gar nicht. An das englische Königshaus etwa ist aus Zermatt eine publicityträchtige Einladung ergangen. Die Hoffnung liegt auf William und Harry, den zwei Prinzen. „Mit beiden könnte man das Matterhorn besteigen“, glaubt Lucken.
Auch eine andere große Aktion hat sich das Matterhorn schon gefallen lassen müssen: Im September veranstaltete die Schweizer Outdorfirma Mammut eine besondere Marketingaktion: Bergführer verteilten sich spät abends auf dem Hörnligrat, der Normalroute zum Gipfel, und hielten Lichter hoch. Eine Illumination des Aufstiegs.
Eine ähnliche Aktion war 1991 von den Zermattern noch verhindert worden. Da sollten an allen drei Graten, die hochführen, jeweils ein Drahtseil und ein Elektrokabel verlegt werden, die alle 30 Meter in den Berg einbetoniert worden wären. So hätten sie das Matterhorn beleuchtet.
Kurt Lauber ist Wirt der Hörnlihütte, die am Fuße des Matterhorns liegt, kurz vor dem Einstieg. „Wir haben die Idee“, umschreibt der 53-Jährige vorsichtig, was er sich am liebsten für den 14. Juli, das Jubiläumsdatum, wünscht. „Sie lautet: An diesem Tag machen wir gar nichts.“
Lauber, der auch Bergführer ist, bewirtschaftet schon seit über zwanzig Jahren die Hütte, an der die meisten Aufstiege beginnen. „Wir wollen dem Berg Respekt zollen, indem er an diesem Tag leer bleibt.“ Aus der Idee wird wohl nichts. Wer auf den Berg will, lässt sich nicht aufhalten.
Die Hörnlihütte ist im Sommer 2014 komplett umgebaut worden. Statt der unwirtlichen Matratzenlager gibt es mehr Betten, auch wenn das Haus dafür insgesamt weniger Übernachtungsmöglichkeiten bietet. Kleiner, aber feiner, Kritiker sprechen von einem „kleinen Hotel“.
3.000 Besteigungen hat das Matterhorn im Jahr, in guten Jahren 3.500 – mehr nicht. Das ist wenig: Der Mont Blanc beispielsweise, mit 4.810 Meter höchster Berg der Alpen, hat die zehnfache Besteigerzahl im Jahr. „Da hat’s halt mehr Platz“, sagt Kurt Lauber. Aber das erklärt nicht alles. Das Matterhorn gilt noch immer als einer der schwersten und unfallträchtigsten Gipfel der Alpen, zehn bis zwölf Tote gibt es durchschnittlich pro Jahr.
Daran wird der Rummel, der um den 150. Jahrestag der Erstbesteigung gemacht wird, nichts ändern. Aber vielleicht setzt sich ein wenig mehr die Erkenntnis durch, wie wichtig es ist, die Kompetenz der Einheimischen zu würdigen, der Mazzones, der Laubers, der Taugwalders.