berliner szenen Schämt euch!

Auf dem Bahnsteig

23 Uhr 17, an der Haltestelle Bellevue. Eine junge Frau in einem schwarz-seidenen Abendkleid und Riemchenschuhen kommt die Treppe herunter, bleibt vor den Automaten stehen und löst eine Fahrkarte. Dann geht sie auf den Bahnsteig, wo eine Gruppe Jugendlicher steht und sich laut unterhält. „Ich hab die Schlampe voll gefickt, Alta!“ Die Frau blickt auf die Anzeigetafel. „7 Minuten“, steht dort. Sie schaut auf ihre Uhr, dann geht ihr Blick über die Gruppe hinweg.

Ein Dicker mit zurückgegelten Haaren greift sich mit der Hand in den Schritt. „Ey Schlampe, haste Bock auf ’nen geilen Schwanz?“ Die Frage wird von anerkennenden Rufen und Schulterklopfen seiner Freunde begleitet. Die Frau reagiert nicht. Der Dicke lässt nicht locker. „Ey, was is’ jetz’, willst du oder nicht?“ Von der Treppe her sind Schritte zu hören, einer der Jungen bückt sich, um zu sehen, wer nach unten kommt. Die Decke schneidet den Oberkörper eines Mannes ab, zu sehen sind nur seine Beine, die in schwarzen, eleganten Hosen stecken und in glänzenden, braunen Lederschuhen enden, die bei jedem Schritt ein lautes Klack! von sich geben. Nach vier Treppenstufen ist dann auch sein Oberkörper zu sehen: ein dunkles Sakko über einem weißen Hemd, dessen oberen zwei Knöpfe geöffnet sind und den Blick auf eine stark behaarte Brust freigeben.

„Hallo Schatz“, sagt sie, als er neben ihr stehen bleibt, und küsst ihn auf die Wange. Der Mann blickt in Richtung der Jungen, dann in Richtung der Frau. „Ist alles in Ordnung? Musstest du lange warten?“ Sie lässt ihre linke Hand über seinen Bauch wandern und küsst seinen Hals. „Nein, alles in Ordnung.“ Die Jugendlichen gucken verstohlen zu Boden. Auf der Anzeige steht: 3 Minuten. MARTIN SPIESS