Atemberaubende Lernkurve

1. LIGA Beim verdienten 3:2-Sieg über den FC Augsburg blitzt mehr als einmal alte Werder-Klasse auf

Die Gäste waren voll des Lobes für den ehemaligen Abstiegskandidaten

Wenn das so weitergeht, brauchen sich die Tribünengäste des SV Werder Bremen gar nicht mehr erst hinzusetzen. Die erste Standing-Ovation gab es im Spiel gegen den FC Augsburg bereits nach 15 Minuten, wenig später hieß es schon „Der SV W ist wieder da“ – diesmal noch kräftiger und euphorischer als beim letzten Heimsieg gegen Bayer 04 Leverkusen. Denn diesmal kam zu unbedingtem Siegeswillen und mannschaftlicher Geschlossenheit noch das gewisse Etwas desFußballs hinzu: Spielwitz und Dynamik auf sehr hohem Niveau. Kaum jemand im Stadion konnte sich daran erinnern, wann Werder das letzte Mal eine Spitzenmannschaft der Bundesliga so dominiert hatte.

Werder hat nun fünf Mal hintereinander gewonnen und führt die Rückrundentabelle der Bundesliga an. Hinter dem, was sich nach einer gleichförmigen Abfolge von Siegen anhört, steckt eine atemberaubende Lernkurve. Als Trainer Viktor Skripnik die Mannschaft im Oktober auf Platz 18 liegend mit vier Pünktchen übernahm, ging es ihm zunächst darum, „Punkte einzusammeln“, egal wie. Dafür mischte er (Stufe1) die gut trainierte, aber schlecht motivierte Mannschaft neu und sprühte mit seiner klaren, authentischen Ansprache ein paar Funken hinein – als Zündenergie für den Abstiegskampf.

Mit den ersten Erfolgen wuchs das Selbstbewusstsein, die Mannschaft stabilisierte sich auf solidem Niveau (Stufe 2), bildete erste Ansätze einer neuen Spielkultur aus (Stufe 3) und zeigt nach nur dreieinhalb Monaten ein Spiel, das die Fans wieder von „Europa“ träumen lässt (Stufe 4). „Die Körpersprache ist phänomenal. Wenn man das mit vor einigen Monaten vergleicht, ist das ein Unterschied wie Tag undNacht“, sagt Zlatko Junozovic, der vor dem Spiel mit seiner Vertragsverlängerung für weiteren Auftrieb gesorgt hatte.

Auch taktisch stellte Skripnik seine Mannschaft wieder perfekt ein: die Sturmspitzen Franco Di Santo und Davie Selke attackierten die Augsburger Abwehrspieler schon beim ersten Pass und das Mittelfeld machte die Räume so eng, dass der Gegner nie zu seinem gefürchteten Kombinationsspiel fand. Im Gegenzug erarbeiteten sich die Bremer im ersten Durchgang so viele Chancen und Standardsituationen, dass sie nach Toren von Assani Lukimya (Kopfball), Di Santo (Elfmeter) und Theodor Gebre Selassie (Kopfball) sowie einem Gegentreffer von Ragnar Klavan (Kopfball) verdient mit 3:1 führten.

Dass die Bremer in der zweiten Hälfte keinen ihrer etwa ein Dutzend gefährlichen Angriffe, die zunehmend sogar in Überzahlsituationen vorgetragen wurden, erfolgreich abschließen konnten, zeigt die nächsten Lernschritte an. Wie gefestigt das Team mittlerweile ist, wird daran deutlich, dass der Gegner diese Nachlässigkeit nur noch mit dem Anschlusstor bestraften konnte.

Ob Manager Stefan Reuter, Trainer Markus Weinzierl oder der Radioreporter vom Bayrischen Rundfunk – die Gäste waren voll des Lobes für den ehemaligen Abstiegskandidaten. Skripnik und die Spieler wollen trotzdem noch keine anderen Ziele als den Klassenerhalt formulieren – sie fürchten wohl, dass die Erwartungshaltung sonst ins Unermessliche wächst.

Eine Delle in der Lernkurve wäre völlig normal, zumal die nächsten Gegner Schalke 04, VfL Wolfsburg und Bayern München heißen. Aber selbst der bodenständige Skripnik sagt auf die Frage, ob seine Mannschaft bald wieder an alte Erfolge anknüpfen könnte: „Sag niemals nie.“ RALF LORENZEN