Staatsschutzaffäre Wattebäuschchen

Seit drei Jahren verhandelt die Justiz über einen Protest gegen die Hamburger Kita-Politik in der Bürgerschaft. Elf Prozesse sind bereits geführt worden. Verteidiger hält Vorgehen der Staatsanwaltschaft für überzogen. Gericht übt Druck auf Angeklagte aus

VON KAI VON APPEN

Es waren nur ein paar Wattebäuschchen, die von der Empore des Plenarsaals im Rathaus schneiten. Und es waren nur vier Minuten, in denen die ParlamentarierInnen der Hamburger Bürgerschaft nicht so tun mussten, als würden sie interessiert die Debatte verfolgen, sondern sich stattdessen dem imitierten Schnee widmen konnten. Und es sind mehr als drei Jahre, in denen die Justiz elf Mitarbeiterinnen der Vereinigung Hamburger Kindestagesstätten (Kita) mit aller Härte verfolgt hat, um sie für die Aktion abzuurteilen. Heute wird vor dem Landgericht über den letzten Fall der Staatsschutzaffäre Wattebäuschchen verhandelt.

Es ist der 27. April 2004. Am Abend debattiert die Bürgerschaft nach dem großen Wahlsieg der CDU den Kita-Etat. Die Sitzung ist auf den Zuschauerrängen gut besucht. Auch Vertreterinnen des Kita-Bündnisses sind anwesend. Sie wollen mit ihrem Protest darauf aufmerksam machen, dass die Betreuungsstandards der Kitas trotz eines gegenteiligen Wahlversprechens von Bürgermeister Ole von Beust (CDU) verschlechtert werden sollen.

Als Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) darlegt, warum nun doch gespart werden müsse, lassen zahlreiche Frauen Wattebäuschchen von der Empore „schneien“ und Flugblätter „regnen“. Das Motto: „Wahlaussagen der CDU sind Schnee von gestern.“

Die Bürgerschafts-Vizepräsidentin Bettina Bliebenich (CDU) unterbricht sofort die Sitzung und lässt elf Frauen von den Rathausdienern festnehmen. Sie werden abgeführt und der Polizei zur Personalienfeststellung übergeben. Die Ermittlungen übernimmt der Staatsschutz.

Mehrere Wochen später erhalten elf Kita-Mitarbeiterinnen Strafbefehle in Höhe von 600 Euro. „Störung der Tätigkeit eines Gesetzgebungsorgan“ lautet der Vorwurf. Der Strafverteidiger Uwe Maeffert bewertet das als „Kriminalisierung unbescholtener Frauen“. Normalerweise würden solche Vorfälle „wegen Geringfügigkeit mit einer Ermahnung eingestellt“, sagt Maeffert. In diesem Fall werde die Aktion „zur Majestätsbeleidigung aufgebauscht“. Maeffert kann sich das nur damit erklären, dass der Justizsenator die Staatsanwaltschaft angewiesen habe, hart durchzugreifen.

Aber auch die jeweiligen Richter tragen in den folgenden zehn Prozessen ihren Teil dazu bei, ein Exempel zu statuieren. Sofern die Beschuldigten ihren Widerspruch nicht im Gerichtssaal zurücknehmen, drohen sie Mammutverfahren mit mehreren Verhandlungstagen und dutzenden Zeugen an – die Bürgerschaft war ja gut besucht – um die Prozesskosten in die Höhe zu treiben. Das zwingt fast alle Frauen dazu, während der Verhandlung zu kapitulieren.

Ein Richter scherte indes aus und sprach eine Betroffene überraschend frei. Die Frau habe sich nicht schuldig gemacht. Der Jurist stellte fest, dass die Geschäftsordnung der Bürgerschaft nirgendwo im Rathaus aushängt. Also hätte die Angeklagte nicht wissen können, dass das Werfen von Wattebäuschchen verboten sei.

Zudem hätte die Sitzungsleiterin Bliebenich die Frauen zunächst ermahnen müssen, bevor sie die Saaldiener anwies, gegen die Frauen vorzugehen. „Es hätte eine Aufforderung ergehen müssen, dass die Gruppe das Werfen zu unterlassen hat“, erläuterte der Richter im Urteil.

Doch die Staatsanwaltschaft legte gegen das Urteil Sprungrevision vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht ein und bekam prompt Recht, so dass die Wattebäuschchen-Affäre die Justiz noch heute beschäftigt. „Ich gehörte noch zu denjenigen, die an das Rechtssystem geglaubt haben“, sagt eine Betroffene der taz über diese Lektion in Staatsbürgerkunde. „Dieser Glauben hat sehr gelitten.“ Beim nächsten Mal werde sie etwas machen, „wobei wir uns nicht erwischen lassen“.