Sex-Piers am Hudson

AUSSTELLUNG Das Schwule Museum lässt in der Fotoschau „Leonard Fink – Coming Out“ eine goldene Ära der homosexuellen Subkultur im New York der 1970er Jahre wieder aufleben

In die Demos der radikalen Gay Liberation Front mischten sich Mütter mit ihren Transparenten: „My son is gay and that’s okay“

VON KITO NEDO

Als Keith Haring im Spätsommer 1978 nach New York kam, um Kunst zu studieren, wähnte er sich bei seinem ersten Spaziergang über die Christopher Street im West Village wie in einem „Gay Disneyland“. Der junge Künstler lief die Straße entlang – bis hinunter zu den Hudson-River-Piers: „Es war das Ende des Sommers, und es war noch immer warm, die Piers waren voll von Leuten, die dort abhingen. Ich war komplett fasziniert – und schockiert.“

Dort, wo die verwinkelten Straßen des Szeneviertels Greenwich Village an den Hudson stoßen, schlug in den Siebzigern das schwule Herz der Stadt. 1969 hatten sich hier homosexuelle Männer in den dreitägigen Stonewall Riots gegen Polizeiwillkür gewehrt und so der Emanzipationsbewegung ein neues, ein radikales Selbstbewusstsein verliehen.

Von der tödlichen HIV/Aids-Krise, die New York in den frühen Achtzigern ergreifen sollte, ahnte da noch niemand etwas. Hedonismus war angesagt. Mit seinen vielen Bars, Diskotheken, Badehäusern und Sexclubs war die Nachbarschaft ein schwules Eldorado: „Post-Stonewall, pre-Aids“ heißt es heute oft, wenn die Rede von dieser goldenen Dekade des schwulen Sex ist. Die heruntergekommenen Hafenanlagen waren ein beliebter Cruising-Treffpunkt, ein Ort für anonymen, mehr oder minder öffentlichen Sex.

Es ist eine versunkene Welt, die Leonard Fink (1930–1992) in den Siebziger- und Achtzigerjahren im Village und an den Piers fotografierte und die gerade im Schwulen Museum gezeigt werden („Leonard Fink – Coming Out“). Fink, der in seinem bürgerlichen Leben als Jurist bei den New Yorker Verkehrsbetrieben arbeitete, durchstreifte in seiner Freizeit und an Wochenenden mit seiner Kamera die Orte schwuler Subkultur und fotografierte als teilnehmender Beobachter jeden und alles: die Ledermänner und Cowboys, die an schönen Tagen vor Bars wie dem Badlands oder Ramrod den Gehweg bevölkerten, die Demonstrationen der politisch radikalen Gay Liberation Front, unter die sich auch Mütter mit ihren Transparenten mischten („My son is gay and that’s okay“), die nackten Sonnenbadenden und den Sex an den Piers. (Obwohl seine Bilder zu Lebzeiten nie ausgestellt wurden, war Fink im West Village angeblich so bekannt, dass man ihn dort auch den „Bürgermeister der Christopher Street“ nannte.) Bei seinem Tod infolge von HIV/Aids 1992 hinterließ er über 5.000 Fotoabzüge und rund 25.000 Negative, die heute im LGBT Community Center National History Archive in New York aufbewahrt werden. Wie viele von denen, die er fotografierte, ereilte dasselbe traurige Schicksal?

Die Sex-Piers galten als gefährliches Terrain. Es war riskant, sich in den alten, seit den Sechzigern größtenteils aufgegeben Anlagen zu bewegen – nicht nur weil man durch Löcher oder morsche Planken im Boden direkt in den Fluss fallen konnte – sondern auch, weil sie von Straßenräuberbanden heimgesucht wurden. Mitte der Siebziger war die Metropole New York an einem Tiefpunkt angelangt: Die Stadt war bankrott, es gab kein Geld mehr für das Sozialwesen und die Infrastruktur. Ab und zu fischte die Polizei eine Leiche aus dem Fluss.

Alvin Baltrop (1948–2004), ein anderer Pier-Fotograf, dessen Werk spät entdeckt wurde, beschrieb seine Obsession so: „Obwohl ich mich zunächst vor den Piers fürchtete, begann ich zu fotografieren – anfangs als Voyeur, doch bald entschlossen, diese beängstigenden, verrückten, unglaublichen, gewalttätigen und schönen Dinge, die zu dieser Zeit dort stattfanden, zu bewahren.“ Die Ahnung, der Moment der Freiheit dauere nicht ewig, schwingt auch bei Fink mit.

Viele der Piers, die Fink fotografierte, sind heute abgerissen oder renoviert. Der West Side Elevated Highway, eine 1973 stillgelegte Hochstraße, die entlang des Hudson-Ufers verlief, ist verschwunden. Im Ende der Neunziger neu angelegten Hudson River Park bestimmen heute Jogger, Fahrradfahrer und Dogwalker die Szenerie. Mit den Piers ist auch ein Stück New Yorker Kunstgeschichte versunken: Auf einem Fink-Foto von 1979 ist etwa der Künstler David Wojnarowicz vor dem Pier 46 zu sehen: Er war eine zentrale Figur der East-Village-Szene. Ein anderes Foto zeigt die Installation „Day’s End“ von Gordon Matta-Clark.

Im Juli und August 1975 verpasste der Künstler – in einem Akt illegaler Aneignung – mithilfe von drei Assistenten der wasserzugewandten Rückseite einer riesigen, hangarartigen Lagerhalle einen Halbmond-förmigen „Cut“. Durch den architektonischen Eingriff entstand ein je nach Tageszeit changierendes Licht-und-Schatten-Spiel, das den Betrachter der Fotografie über die eigenwilligen Verstrickungen von Industrieruinen, Hedonismus, Sex und Kunst spekulieren lässt.

■ Bis 23. März, Schwules Museum, Lützowstr. 73, So., Mo., Mi. 14–18, Sa. 14–19 Uhr, Katalog „Leonard Fink – Coming Out. Photographs of Gay Liberation and the New York Waterfront“ (Edition Clandestin), 40 Euro