„Ohne Hormone würde er über alles weinen“

Der mexikanische Regisseur Claudio Valdés Kuri zeigt auf Kampnagel Hamburg – und erstmals in Deutschland – sein Musiktheater-Stück über die Geschichte der Kastraten. Hauptfigur ist Javier Medina, einer der raren heutigen Kastraten

CLAUDIO VALDES KURI, 42, Schauspieler und Sänger, ist im Hauptberuf Kinodirektor und hat 1997 das in Mexiko Stadt ansässige Teatro de Ciertos Habitantes gegründet, das er auch als Regisseur leitet.

taz: Wie kamen Sie auf ein so abseitiges Thema?

Claudio Valdés Kuri: Vor über zehn Jahren sang ich in einem Barockensemble. Einer der Sänger war Javier Medina, der auch in unserem Stück mitspielt. Er hatte als Junge Leukämie gehabt, und bei der Behandlung hatte man ihn versehentlich kastriert. Er hatte eine wunderbare Sopranstimme, litt aber immer darunter, dass er als weibisch galt. Auf unseren Tourneen sprachen wir viel darüber, bis wir beschlossen, ein Stück über die Geschichte der Kastraten zu machen. Jorge Kuri und ich haben dann angefangen zu recherchieren. Die Ergebnisse waren Grundlage unseres Stücks, das im Jahr 2.000 in Mexiko Premiere hatte.

Ihr Musiktheater-Stück versteht sich also als historische Revue?

Ja, wir zeichnen die Entwicklung der Kastraten seit der Renaissance nach. Inspiriert durch die Eunuchen der osmanischen Harems, begann man im Europa des 16. Jahrhunderts, arme italienische Jungen zu kastrieren. Den Eltern versprach man Reichtum und Karriere für den Sohn. Dabei war natürlich überhaupt nicht sicher, ob diese Karriere je eintreten würde. Und der größte Teil der so Verstümmelten wurde niemals berühmt und führte ein deprimiertes Leben.

Ihr Stück heißt „Monster und Wunderkinder“. Warum?

Einerseits waren die Kastraten die ersten echten Stars; bisher hatten nur Kriegshelden ähnliche Verehrung genossen. Und Monster waren sie, weil sie im Männerkörper die Stimme einer Frau, eigentlich eines Kindes trugen. Aufgrund der fehlenden Hormone waren sie außerdem entweder extrem fettleibig oder sehr dünn – und psychisch höchst labil.

Waren sie also auch sozial isoliert?

Während der Jahre des Ruhms nicht. Wohl aber, wenn sie älter wurden. Etliche Quellen berichten, dass viele Kastraten einsam starben.

Dabei hätten sie doch heiraten können.

Natürlich. Sie konnten auch sexuelle Beziehungen haben. Nur, dass man von ihnen nicht schwanger werden konnte, was sie zu attraktiven Liebhabern mit umstrittenem Lebenswandel machte. Von verheirateten Kastraten weiß ich allerdings nichts.

Üben Sie in Ihrem Stück Kritik an der Praxis des Kastrierens?

Ja. Zugleich ist das Thema zutiefst ambivalent: Es ist tragisch, was man diesen Menschen antat, andererseits entstanden so – manchmal – wunderbare Stimmen. Abgesehen davon hat das Problem eine allgemeine Dimension. Denn diese Verstümmelungen zwecks musikalischer Leistung ähneln durchaus dem, was Hochleistungssportler ihren Körpern zuführen. Und wir alle wissen darum – und applaudieren, wenn diese Sportler erfolgreich sind.

Aber wenn wir von konkreten Doping-Fällen erfahren, applaudieren wir nicht mehr. Sind diese Dinge wirklich vergleichbar?

Sie kommen sich sehr nahe – mit dem Unterschied, dass inzwischen die Menschenrechte existieren und Sportler außerdem heute bewusst entscheiden, ob sie etwas einnehmen.

Diese Karriere-Versprechungen an die Eltern armer Kinder: Vergleichen Sie die mit dem Verkauf etwa guatemaltekischer Babies durch hungernde Mütter? Hatten Sie bei der Komposition des Stücks Parallelen zum aktuellen Lateinamerika im Blick?

Es gibt gewisse Parallelen, aber explizit sozialkritisch angelegt ist das Stück nicht. Auf solche Verbindungen sind wir erst im Laufe unserer Arbeit gestoßen. Wir wollen einfach nur ein Stück über die Geschichte der Kastraten machen.

Wie funktioniert der Plot Ihres Stücks?

Wir haben historische Einlassungen mit improvisierten Dialogen gemischt, in denen auch die negativen Facetten des Kastratenlebens Thema sind. Dazwischen gibt es Gesangseinlagen Javier Medinas. Und wir arbeiten mit bunten, schillernden Barock-Kostümen.

Ein lustiges Karnevals-Stück also?

Nicht ganz. Es beginnt zwar lustig, wird dann aber immer tragischer, bis der Held einsam stirbt. Die Chronologie endet mit der letzten und einzigen erhaltenen Tonaufnahme des Kastraten Allessandro Moreschi von 1902.

Sie haben in Ihr Stück einen realen Kastraten einbezogen. Bedienen sie da nicht einen gewissen Voyeurismus?

Nein. Dieses Stück zu machen war für Javier Medina ein Notwendigkeit. Er hatte immer darunter gelitten, dass er ein Zwitterwesen und nicht anerkannt war. Die Arbeit an unserem Stück hat ihm geholfen, als Person und als Künstler akzeptiert zu werden. Inzwischen ist er sehr renommiert und bekommt Angebote aus der ganzen Welt.

Wie viele Kastraten gibt es heute, von denen Sie wissen? Oder ist er ein echter Dinosaurier?

Er ist ein Dinosaurier. Es gibt zwar männliche Sopranisten. Aber sie nutzen eine spezielle Technik, um hoch zu singen. Javier hat aber einfach eine hohe Stimme. Er braucht keine spezielle Technik. Außerdem verfügt er über ein größeres Volumen als diese Sopranisten.

Dann bedient er die akustische Ästhetik einer vergangenen Ära.

Absolut. Und obwohl er inzwischen Hormone bekommt, haben sein Charakter und sein Körper noch viel mit denen früherer Kastraten gemeinsam. Er hat zum Beispiel den Brustumfang einer Frau. Und sein Wesen ist wie das eines Kindes. Ohne Hormongaben würde er ständig in Tränen ausbrechen. Andererseits bewundere ich gerade diese Kindlichkeit an ihm.

INTERVIEW: PETRA SCHELLEN

„Monsters and Prodigies“: 25.–28. 10., 19.30 Uhr, Kampnagel Hamburg