Niedersachsen wird Beifahrer

Das VW-Gesetz steht vor dem Aus: Wahrscheinlich kippt der Europäische Gerichtshof heute in Luxemburg zumindest Teile der fast 50 Jahre alten Regelung, die dem Bund und dem Land Niedersachsen Einfluss bei Volkswagen sichert

1949 übertrug die britische Militärregierung das in der NS-Zeit gegründete VW-Werk auf die Bundesregierung als Treuhänderin, das Bundesland Niedersachsen sollte Volkswagen verwalten. 1959 wurden Bund und Land per Staatsvertrag Eigentümer der Volkswagen GmbH. Ein Jahr später entschied Wirtschaftsminister Ludwig Erhard (CDU), Volkswagen zu privatisieren, das von der EU-Kommission beklagte Gesetz trat in Kraft. VW wurde zur Aktiengesellschaft, 20 Prozent bekam der Bund, 20 Prozent das Land Niedersachsen, 60 Prozent wurden als „Volksaktien“ verkauft. Mit dem Erlös von einer Milliarde Mark wurde die Volkswagen Stiftung gegründet. Der Bund trennte sich 1988 gegen den Widerstand von IG Metall und Betriebsrat von seinen Anteilen, den Verkaufserlös bekam erneut die Stiftung. Seitdem halten alle niedersächsischen Landesregierungen gleich welcher Couleur an ihrem Einfluss am Automobilkonzern fest. TAZ

VON KAI SCHÖNEBERG

Noch zwei Wochen ist Frits Bolkestein im Amt, als die Europäische Kommission am 13. Oktober 2004 entscheidet, Klage gegen Deutschland beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) einzureichen. Das Abschiedsgeschenk für den EU-Binnenmarktkommissar heißt C-112 / 05 und wird am heutigen Dienstag von den 13 Luxemburger Richtern entschieden: 324.000 VW-Mitarbeiter in der ganzen Welt warten gespannt, ob sich Bolkestein durchsetzt. Es sieht nach einer späten Rache für den „eisernen Frits“ aus. Der Marktliberale hatte stets gewettert, das VW-Gesetz aus dem Jahr 1960 schränke den freien Kapitalverkehr in Europa ein, weil es VW durch die starke Stellung von Bund und Land Niedersachsen vor feindlichen Übernahmen schütze. Dass sich Investoren trotz VW-Gesetz nicht davon abhalten ließen, in Wolfsburg einzusteigen, hat Bolkestein nicht gekümmert. Auch nicht, dass VW trotz der Regelung zu Europas größtem Autokonzern geworden ist.

Der Vorsitzende EuGH-Richter Vassilios Skouris dürfte das Gesetz zumindest in Teilen kippen. EU-Generalanwalt Dámaso Ruiz-Colomer hatte bereits im Februar empfohlen, dem Vertragsverletzungsverfahren stattzugeben. In vier von fünf Fällen halten sich die EuGH-Richter an solche Vorgaben. Und: Bereits 2002 hatte der EuGH geurteilt, so genannte „Goldene Aktien“ beim einstigen französischen Staatsunternehmen Elf Aquitaine seien mit EU-Recht nicht vereinbar.

VW-Aufsichtsratschef und Porsche-Miteigentümer Ferdinand Piech dürfte also seinen Traum verwirklichen können, die beiden Konzerne unter dem Dach einer Porsche-Holding zu vereinigen. Noch beschränkt das VW-Gesetz die Stimmrechte der Aktionäre auf 20 Prozent – unabhängig von der tatsächlichen Höhe ihrer Anteile. Das nützt Niedersachsen, das seit Jahrzehnten vor allem die Hand über die derzeit rund 90.000 Mitarbeiter in den sechs Werken im Land hält. Obwohl nur 20,8 Prozent der VW-Aktien in Landesbesitz sind, entsendet es zwei Aufsichtsräte ins höchste VW-Gremium – auch die sind im VW-Gesetz fixiert.

Die öffentliche Hand kann also noch Entscheidungen von Porsche blockieren. Dabei hält der Stuttgarter Sportwagenbauer, der im vergangenen Jahr groß bei den Wolfsburgern einstieg, mittlerweile 30,9 Prozent an VW. Und scharrt mit den Hufen, um sich den Riesen vom Mittellandkanal endgültig einzuverleiben. Noch lohnt es sich wegen des VW-Gesetzes nicht, die rund zehn Milliarden Euro für die Aufstockung der Anteile auf mehr als 50 Prozent in die Hand zu nehmen.

Wenn das Gesetz fällt, dürfte Niedersachsens Einfluss schrumpfen – auch bei Entscheidungen wie Werksschließungen. Das Land benötigt nach Aktienrecht mindestens 25,1 Prozent, um sich eine Sperrminorität zu sichern. Um die zu erreichen, müsste das Land etwa 2,5 Milliarden Euro in VW stecken. Das schloss Finanzminister Hartmut Möllring (CDU) am Wochenende erneut aus.

„Sollten wir jedoch eines Tages ein Konzern sein“, sagte Porsche-Chef Wendelin Wiedeking bereits im September, „werden sicherlich einige Themen auf die Tagesordnung kommen.“ Es dürfe keine heiligen Kühe geben, denn die gibt es auch bei Porsche nicht. Gemeint waren der VW-Haustarif und die starken Mitbestimmungsrechte. Er verstehe nicht, „warum der Vorstandsvorsitzende von Porsche die erfolgreiche Arbeit von Winterkorn und seinen Vorstandskollegen diskreditiert, indem er suggeriert, bei Volkswagen halte sich der Vorstand heilige Kühe“, musste VW-Betriebsratschef Bernd Osterloh VW-Boss Martin Winterkorn in Schutz nehmen.

Beobachter erwarten, dass Wiedeking Wolfsburg komplett umkrempelt: Quersubventionierungen, wie sie bei VW üblich sind, um schwache Konzernteile wie Seat oder auch teilweise die deutschen Werke zu stützen, sind ihm ein Graus. Auch möglich, dass VW-Töchter wie Audi und Skoda direkt der neuen Porsche-Holding unterstellt werden, der VW-Einfluss im Gesamtkonzern würde schrumpfen.

Betriebsrat Osterloh fürchtet von Porsche weiteres Ungemach: Es sei ein Unding, dass in der Porsche-Holding die VW-Arbeitnehmer genauso viel Aufsichtsräte schicken sollen wie die 11.000 Porsche-Mitarbeiter. Eine Arbeitsgerichts-Entscheidung gegen die Mitbestimmung in der Holding wird an diesem Mittwoch erwartet.