die taz vor 15 jahren über die spielregeln des zivilen ungehorsams
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Ziviler Ungehorsam ist für alle Beteiligten an Spielregeln gebunden. Auf der Seite der Gesetzesbrecher gilt es, die körperliche Unversehrtheit der „anderen Seite“ zu achten und materielle Schäden möglichst gering zu halten. Auf der Seite der Staatsmacht hingegen kommt es darauf an, möglichst niemanden zu verhaften, eingeleitete Verfahren lautlos einzustellen bzw. schlimmstenfalls mit einer symbolischen Strafe enden zu lassen.

Die Auslegung der Spielregeln obliegt keineswegs der Justiz, sondern der Öffentlichkeit. Im Zweifelsfall ist ein Gutachten bei Herrn Professor Jürgen Habermas einzuholen. Allein, so glatt lief und läuft die Sache nicht. Nun haben die Rostocker Justizbehörden die Faust der Strafverfolgung niedersausen lassen. Eine Gruppe französischer Juden, die gegen die drohende Abschiebung von Roma-Flüchtlingen protestierte, wird mit einer Vielzahl von Verfahren überzogen. Gegen drei der Übeltäter, die ihre festgenommenen Freunde unter Einsatz von Tränengas befreien wollten, ist Haftbefehl erlassen worden.

Nun könnte man argumentieren, daß in einer Situation, wo der Justiz im Osten zu Recht mangelnde Wahrnehmung des staatlichen Gewaltmonopols vorgeworfen wird, falsch wäre, plötzlich für Zurückhaltung der Staatsmacht zu plädieren. In der Tat wäre es fatal, würde eine Einstellung der Verfahren nur damit begründet, daß es sich bei den Tätern um französische Juden handle. Die Freilassung der Inhaftierten rechtfertigt sich ausschließlich aus dem humanen Anliegen der „Täter“ und der Geringfügigkeit der Tat.

Es wird keineswegs für zweierlei Recht plädiert. Wenn Religionszugehörigkeit eine Rolle spielen sollte, dann diese: für Nachkommen von Holocaust-Überlebenden ist unerträglich, wenn man vier aus ihrer Mitte, die gegen Unmenschlichkeit protestierten, festnimmt. Das hätte die Polizei wissen müssen. Sie hat durch ihren törichten Eifer die Befreiungsversuche verursacht.

Christian Semler, 24. 10. 1992