Der lebendige Puls des Individuellen

Viele ihrer Porträts gehören zu den besten, die das 20. Jahrhundert kennt. Die 1900 geborene amerikanische Künstlerin Alice Neel wurde erst in den Sechzigern wiederentdeckt, jetzt sind Bilder von ihr bei Aurel Scheibler zu sehen

Jeder Mensch, meinte die amerikanische Künstlerin Alice Neel, sei einzigartig und doch definiert durch die Zeit, in der sein Licht erstrahlt und dann auch schon wieder erlischt. So suchte ihn die zierliche Frau auch malerisch am Schlafittchen zu packen. Sie setzte ihn auf einen Stuhl, ein Sofa oder ein Bett, wo er stillhalten musste; dann begann sie – ohne jede Vorzeichnung – sein Porträt zu malen.

Laut Robert Storr, dem Leiter der diesjährigen Biennale in Venedig, sieht man in diesen Bildern, „wie die Zeit geschieht, anstatt zu sehen, wie sie angehalten wird“. Anders als im fotografischen Porträt, in dem sie festgefroren scheint, scheint die Zeit in Alice Neels Porträts noch immer zu pulsieren.

Und doch hält auch Neel die Zeit fest, die Attitude und die Mode der jeweiligen Ära. Als Protagonistin der politisch engagierten Kunst des New Deal bestand Alice Neel darauf, dass kein Gesicht aussehen durfte, als hätte es so schon vor hundert Jahren gemalt werden können. Diese Individualität, mitdefiniert durch eine klar abgegrenzte Ära, macht viele ihrer Porträts zu den besten, die das 20. Jahrhundert kennt. Alice Neel war deshalb aber noch lange keine erfolgreiche Malerin. Die 1900 im ländlichen Pennsylvania geborene Künstlerin war die längste Zeit ihrer Karriere eine Außenseiterin.

Wie in einem Dokumentarfilm ihres Enkels Andrew Neel deutlich wird, der die gerade mal sieben Porträts umfassende, aber nur grandios zu nennende Ausstellung bei Aurel Scheibler begleitet, dürften die späten 30er-Jahre ihre zunächst beste Zeit als Künstlerin gewesen sein. Roosevelts Beschäftigungsprogramm, das auch die Künstler mit einbezog, ließ sie die Straßen New Yorks entdecken, Spanish Harlem und seine Leute anstelle der Künstlerclique in Greenwich Village. Obwohl sie auch zu dieser Zeit kaum ein Bild verkaufte, war sie mit ihrem Werk doch noch im Einklang mit der Zeit.

Nach dem Krieg allerdings, unter der Meinungsführerschaft des Kunstkritikers Clement Greenberg und Kunstmarkterfolg des Abstract Expressionism, galt ihre Kunstauffassung nicht nur als antiquiert, sie erschien darüber hinaus auch politisch verdächtig. Erst die Pop Art in ihrer Affinität zum Zeitgeist auf der einen und der Feminismus mit seiner Repolitisierung der Kunst auf der anderen Seite ermöglichten die Wiederentdeckung von Neels Werk.

Bei ihrem ersten Zusammentreffen mit ihrem Bewunderer Chuck Close eröffnete das Gespräch mit den Worten: „Chuck Close! Ich hasse Ihr Werk!“ Gleichzeitig aber begann sie zunehmend die Prominenz aus der Kunstwelt zu porträtieren und sich durch Vorträge an den Universitäten bekannt zu machen. 1974 widmete ihr das Whitney Museum die erste große Retrospektive.

Die Kamera hielt fest, wie sie strahlend durch die Museumsräume geht, deutlich erstaunt über das, was ihr da widerfährt. Ihr Glück zaubert die Schönheit ihrer jungen Jahre in ihr Gesicht zurück, als sie Carlos Enriquez kennen lernte, einen kubanischen Avantgardemaler aus reichem Haus. Doch die Ehe scheitert, eine Tochter stirbt, eine andere bleibt nach der Trennung beim Vater. Auch ihre weiteren Beziehungen sind problematisch, die meiste Zeit bringt sie sich und ihre zwei Söhne von zwei verschiedenen Vätern mit Sozialhilfe durch, während die Leinwände, die sich in der kleinen New Yorker Wohnung stapeln, kaum mehr ein Durchkommen zulassen. Diese Leinwände kennzeichnen nun aber keine Armut, sondern Anmut. Mut zur Leichtigkeit und zu einer Lässigkeit, die im Detail freilich überaus präzise und penibel ist. „James Hunter Black Draftee“ etwa, ein Bild bei Aurel Scheibler, das 1965 entstand, skizziert die Figur des Sitzenden nur im Umriss. Allein sein melancholisch in die Hand gestütztes schwarzes Gesicht wurde von Neel sorgfältig ausgemalt. Dabei bleibt die Komposition vollkommen im Gleichgewicht und die abstrahierende Skizze triumphiert nicht über das psychologisch interessierte Porträt.

Obwohl sie den Porträtierten nicht unbedingt schmeichelt, denunziert sie Alice Neel nie. „Martin Jay“, 1932 gemalt, ist weiß Gott keine Schönheit, und doch hat er einen Zauber, der in der Ernsthaftigkeit steckt, mit der er versucht, ein Zucken seiner Mundwinkeln zu unterdrücken. Die Frage, wie es sei, jemanden zu porträtieren, beantwortete Neel im Film: „Wie ihn zu bewohnen“.

BRIGITTE WERNEBURG

Bis 17. 11., Aurel Scheibler, Witzlebenplatz 4, Di.–Fr.10–13 und 15–18 Uhr, Sa. 11–16 Uhr. Der Film wird am 9. 11. um 18.30 Uhr in der Galerie gezeigt