Raucht nicht, trinkt nicht, fixt nicht

KUNST Der Berliner Medienkünstler Wolf Kahlen betreibt seit 30 Jahren in Dahlem die Ruine der Künste. Zum Jubiläum zeigt er eigene Werke – und hofft auf eine Retrospektive im Sommer

Wenn er von diesen Aktivitäten erzählt, ist Wolf Kahlen kaum zu stoppen

VON TILMAN BAUMGÄRTEL

Wenn man in Berlin noch Einschusslöcher russischer MGs aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs sehen will, muss man inzwischen ganz schön suchen. Nach der Wende waren sie noch an vielen Mietskasernen in Ostberlin zu finden. Wie Pockennarben überzogen sie ganze Häuserblöcke in Mitte und Prenzlauer Berg. Heute sind die meisten von ihnen wegrenoviert.

Aber wer mit der U-Bahn ins idyllische Dahlem fährt, am Thielplatz aussteigt und ein paar hundert Meter läuft, findet ausgerechnet dort zwischen schnieken Villen ein Gemäuer, das aussieht, als sei die unmittelbare Nachkriegszeit noch nicht vorbei: ein zweistöckiger Kasten, dessen grau-braune Wände seit 1945 garantiert nicht mehr gestrichen wurden. Darin jede Menge Einschusslöcher, um die herum der Putz abgeplatzt ist. Aus dem oberen Stockwerk wächst eine Birke heraus. Am Balkon ist nur rohes Mauerwerk übrig geblieben.

Das ist die „Ruine der Künste“, ein „privater Ort für materielle und immaterielle Künste“, wie es auf einem Emailschild am Tor heißt. Das Wort „immateriell“ ist nicht koloriert, und man muss ein bisschen von der Seite gucken, um es lesen zu können.

Berliner Kunstgeschichte

Der Berliner Künstler Wolf Kahlen betreibt hier seit 1985 einen Ausstellungsort, an dem inzwischen mehr als 140 Ausstellungen stattgefunden haben, vier bis fünf im Jahr – unter anderem von Jochen Gerz, Christina Kubisch, Wolfgang Laib, Milan Knizak, (e.) Twin Gabriel oder Michael Snow. Max Neuhaus zeigte hier sein erstes „Time Piece“, Robert Filliou die letzte Installation, die er vor seinem Tod fertigstellte. La Monte Young und Marian Zazeela verwandelten die zweistöckige Villa mit einer Soundinstallation und violetter Neonbeleuchtung zu einer Dependance ihres New Yorker „Dream House“. Im gepflegten Garten befinden sich eine Skulptur des britischen Konzeptkünstlers John Latham und eine Installation von dem Land-Art-Vertreter Peter Hutchinson, die jedes Frühjahr neu angepflanzt werden muss.

Zusammen mit seinem Sohn Timo und größtenteils mit eigenem Geld leitet Kahlen diesen Ort: „Als ich in den Achtzigerjahren hier anfing, wollte ich mit der damaligen Subventionitis in Westberlin nichts zu tun haben“, sagt er. „Das fanden viele arrogant.“ Kahlen machte Anfang der Siebziger durch Videoarbeiten auf sich aufmerksam, hat aber auch Skulpturen, Installationen und Gemälde geschaffen und Performances gezeigt; Ende der 90er Jahre entwickelte er Arbeiten für das Internet.

Aufgefallen war ihm die Ruine bei Spaziergängen in seiner Nachbarschaft nahe der FU, wo er wohnt. 1981 mietete er das Gebäude und begann, die Ruine am Wochenende auszubauen – ein frühes Beispiel für die berühmt-berüchtigte Zwischennutzung, der die Berliner Kunstszene so viel verdankt.

„Als die Rote Armee im Mai hier in Berlin einmarschierte, kamen ihre Panzer nicht über den U-Bahn-Graben, darum mussten sie hier warten“, erzählt Kahlen. Gerade hat er noch erklärt, dass er sich nicht für Geschichte interessiert – das seien doch alles „nur Storys vom Hörensagen“. Aber dann erzählt er doch weiter: „Als die russischen Soldaten hörten, dass der Krieg vorbei ist, haben sie ihre MGs auf die Wand von dieser Villa abgefeuert, um die Patronen nicht zurückgeben zu müssen.“ Das Haus brannte aus, die Besitzer verkauften die Überreste an den Senat; Kahlen ließ die Spuren der Vergangenheit sichtbar bleiben. Ab 1982 hatte er eine Professur für Medienarchitektur an der TU, das regelmäßige Einkommen floss teilweise in den Ausstellungsbetrieb.

Privates Engagment

„Ich rauche nicht, ich trinke nicht, ich fixe nicht, und ich habe auch sonst keine teuren Laster“, sagte Kahlen, so habe er sich den Betrieb der Ruine der Künste so lange leisten können. Die Künstler stammten teilweise aus Kahlens Bekanntenkreis; oft waren es aber auch DAAD-Stipendiaten, die nach einem Ausstellungsort mit einem besonderen Berliner Flair suchten.

1988 – als Westberlin europäische Kulturhauptstadt war – finanzierte der Senat der Ruine der Künste ein einjähriges Projekt zum Thema Zeit. Der polnische Künstler Wojciech Bruszewski installierte einen Radiosender, der auf der UKW-Frequenz 97,2 Nonstop-Dialoge ausstrahlte, die aus Zitaten großer Philosophen bestanden– diese wurden von einem Computerprogramm nach dem Zufallsprinzip generiert. Der Sender und die Antenne auf dem Dach sind nach wie vor installiert, man könnte morgen wieder auf Sendung gehen. Das Sendegerät bestrahlte Westberlin so lange mit Nonsens-Konversationen, bis Anfang der 90er Jahre die Radiofrequenzen der Stadt kommerziell ausgelobt wurden.

Für die Reihe „365 Zeit-An-Sagen“ bat Kahlen befreundete Künstler, eine Ansage für einen damals brandneuen und sauteuren Anrufbeantworter einzusenden. Jeden Morgen um neun wurde eine frische Kassette mit einer neuen Künstlermessage von Künstlern wie Nam June Paik, Marina Abramovic, John Cage oder Hans Haacke eingelegt, die man per Anruf abhören konnte. „Unterbrecht mich, wenn ich zu viel rede“, sagt Kahlen zwar zwischendurch mal, aber wenn er von diesen Aktivitäten erzählt, ist er kaum zu stoppen.

Obwohl in der ehemaligen Villa durchaus Westberliner Kunstgeschichte stattgefunden hat, konnte sich der Hauptstadtkulturfonds nicht dazu entschließen, zum dreißigjährigen Jubiläum eine Ausstellung samt retrospektiver Publikation zu unterstützen. So zeigt Kahlen nun zum Auftakt des Gedenkjahres eigene Bilder aus Altöl, 1990 während einer Gastprofessur in China gemalt. Und er ist sich sicher, dass im Sommer trotz allem eine Jubiläumsausstellung zu sehen sein wird, auch wenn er noch keine Idee hat, woher das Geld dafür kommen soll.

„Ich habe für fast jede Ausstellung, die hier stattgefunden hat, eine Videodokumentation und sehr viele Skizzen und Modelle“, sagt Kahlen – die müssten einfach mal gezeigt werden. Eine „Memory Bank“ mit dreißig Fenstern für ausgewählte Exponate, die er selbst gebaut hat, steht schon im ersten Stock. Fünf Künstler hätten schon neue Installationen für die Jubiläumsshow angekündigt. Danach soll dann allerdings erst mal Schluss sein mit Ausstellungen in der Ruine der Künste, kündigt der inzwischen 75-jährige Kahlen an.

■ Ruine der Künste, Hittorfstraße 5, geöffnet nach Vereinbarung, Tel.: (0 30) 8 31 34 35