Erzwungene Reise in den Westen

OPPOSITIONELLE Bärbel Bohleys postum erschienenes „Englisches Tagebuch“ dokumentiert eindrücklich die Vorwendezeit

Ich glaube, auf der Straße raucht man hier nicht, denn ich werde immer sehr merkwürdig angesehen. Warum nur? Die Leute essen alle fünf Meter an irgendeinem Stand, und das finde ich eigentlich unanständiger als Rauchen.“ Es ist März 1988, und Bärbel Bohley beschreibt in ihrem Tagebuch die westdeutsche Stadt Kassel. Die Ostberliner Malerin ist kreuzunglücklich.

Im Monat zuvor ist sie direkt aus dem Berliner Stasiknast nach Westdeutschland abgeschoben worden. Anders als manch andere, die sich ab Mitte der Achtzigerjahre der Friedens- und Umweltbewegung anschlossen, um zügiger ausreisen zu können, wollte Bohley nicht weg. Dass sie schließlich doch ging, dankte sich dem Versprechen, nach sechs Monaten wieder einreisen zu können. In ihrem „Englischen Tagebuch 1988“ kann man spüren, wie sie hasst, was ihr da widerfährt. Es ist die unmittelbare Erfahrung eines Kontrollverlusts.

Bärbel Bohley, die 2010 gestorben ist, war keine einfache Person. Nicht für andere, erst recht nicht für sich selbst. Man spürt das noch einmal beim Lesen dieses 168 Seiten schmalen Buches. Der Zwang, unter dem diese Reise entstand, das Unfreiwillige macht sie mürrisch bis zur Selbstverletzung. Sie kann nicht genießen, was sie erlebt, sieht, schmeckt. Auf jene Reise begleiten sie ihr Freund Werner Schulz und ihr jugendlicher Sohn Anselm.

In den ersten Wochen irren die drei durch die Bundesrepublik der Achtzigerjahre. Sie werden herumgereicht. Petra Kelly schenkt ihnen Bücher und Waschzeug. Die Frau von taz-Autor Christian Semler massiert Bohley den Nacken. Oskar Lafontaine empfängt sie. Über eine Fraktionssitzung der Grünen in Bonn schreibt Bohley: „Wer keine Lust auf ein Gespräch mit uns hat, geht rauchen, und das sind nicht wenige.“ Es ist die Situation armer Verwandter auf Überraschungsbesuch. Schließlich reist Bohley nach England. Sie belegt einen Sprachkurs, trifft sich mit Leuten, Herumgereichtwerden auch hier. Aber es fühlt sich schon etwas besser an. Ihre Anwälte – sie heißen Gregor Gysi und Wolfgang Schnur – haben die Rückkehr in die DDR nach sechs Monaten ausgehandelt. Anfang August soll es so weit sein.

Bärbel Bohley zweifelt an allen Versprechungen. Aber für den Fall, dass sie zurückkann, unternimmt sie eine letzte Reise. Italien packt sie. „Der ganze Süden stürzt auf mich ein“, notiert sie, „ich weiß, dass ich davon lange zehren werde, wenn ich wieder durch meinen Prenzlauer Berg laufen darf.“ Vierzehn Tage Italien – „es soll für ein Leben reichen“. Ausnahmsweise irrt sie hier. Gut ein Jahr später fällt die Mauer, Bärbel Bohley wird noch vieles sehen, lange Reisen unternehmen, sie muss die Eindrücke nicht mehr konservieren für graue Tage. Alles wird möglich. Wer 22 Jahre nach dem Mauerfall noch einmal spüren möchte, wie sich das Unmögliche angefühlt hat, sollte dieses Buch zur Hand nehmen. Es wirkt. Sie wirkt.

ANJA MAIER

Bärbel Bohley: „Englisches Tagebuch 1988“. Basisdruck, Berlin 2011, 168 Seiten, 14 Euro