IN DER M 10
: Wettbewerb

Er möchte wissen: „Papa, kannst du auch so laut rülpsen?“

Wir haben bereits Platz genommen, bevor mir der Mann auffällt, der, nur vom schmalen Gang getrennt, neben uns sitzt. Komisch, dass Melanie nichts gemerkt hat, wo sie doch immer so ein feines Gespür hat für Menschen, mit denen etwas nicht stimmt. Sein Blick wandert ins Leere, er lächelt starr, wackelt mit dem Kopf. Und er riecht. Melanie ist bestimmt trotzdem gegen Umsetzen, um ihn nicht zu verletzen. Ich muss also verhindern, dass Hannah und Max vor dem Aussteigen auf ihn aufmerksam werden. Sie sprechen das, was sie gerade beschäftigt, leider immer sofort an. Ich möchte nicht in seiner Gegenwart erklären müssen, warum er seltsam ist.

„Schaut mal!“, deute ich aus dem Fenster, um sie abzulenken. „Da hinten, das ist die O2-World. Dort finden immer Konzerte statt.“ Haltestelle S-Bahn Warschauer ruft der Mann: „Ja, ja!“, ohne ersichtlichen Anlass. Ich reagiere geistesgegenwärtig. „Und dort ist Kaiser’s.“ Der Mann öffnet seine Sporttasche und holt eine Flasche Bier hervor. Es ist 11 Uhr. Doch wegsetzen? Melanie tut so, als verstehe sie meine Blicke nicht. Wahrscheinlich würde sie mir später ohnehin erklären, zu einem Leben in der Stadt gehören auch solche Erfahrungen. Jetzt brabbelt er. Ich: „Guckt mal! Da ist eine Ampel.“ Melanie schaut mich an, als wäre ich plemplem. Vielleicht wirke ich auf sie auch schon wie er. Jetzt rülpst er in einer Lautstärke, die vermutlich selbst bis zum Fahrer dringt. „Mama, der Mann hat gerülpst“, flüstert Hannah. „Hoh! Der Mann hat voll laut gerülpst“, jauchzt Max. Und dann möchte er wissen: „Papa, kannst du denn auch so laut rülpsen?“ So hörbar, dass sich mehrere Leute nach uns umdrehen, nur nicht der Mann. „Nein. Aber Mama!“, scherze ich. „Cool, Mama!“, ruft Max. Doch die freut sich nicht über den Zuspruch. „Lass uns woanders einen Platz suchen“, schlägt sie vor. Das hätte sie auch gleich haben können.

STEPHAN SERIN