Ein Zug durch die Moderne

KUNST Die neue Sonderausstellung der Bremer Kunsthalle ist ihrem eigenen Titel ein Stück voraus: Protagonist Émile Bernard darf getrost als Vorläufer der Moderne gelten

Im lässigen Arrangement hat auch die Leere Platz, wenn ein Krug nicht ins Format passt, wird er einfach abgeschnitten

VON JENS FISCHER

Was für ein genial alleskönnerischer Hallodri! Poet, Kunstkritiker, Romancier, Verleger, Textilgestalter, Lautenspieler, Kurator, Buchillustrator, Kirchenfreskenmaler – ein Leben lang zwischen Kairo, Jerusalem, Konstantinopel, Venedig, Paris, Sevilla unterwegs. Sicherheit und Souveränität für absolut unerstrebenswert haltend, ist Émile Bernard ständig im Aufbruch, stets Überzeugungstäter, immer schon wieder dagegen, bevor er eine Idee ausformuliert und erfolgreich ausgearbeitet hat.

Je nach Einstellung mag es pubertärer Überschwang oder trotziger Mut genannt werden, wie er eigene Erfindungen negiert, wenn sie Mode zu werden drohen. „Hier ist jemand, der vor nichts zurückschreckt“, steht daher auf der Werbepostkarte für den Helden der neuen Kunsthallen-Ausstellung. Wer einmal in ein Kunstgeschichtsstudium hineingelauscht hat, mag Bernards literarische Auseinandersetzung mit den schönen Künsten oder seine Korrespondenz mit Vincent van Gogh kennen. Kaum einer aber weiß, dass er ein umfangreiches Oeuvre an Gemälden, Zeichnungen, Aquarellen, Drucken hinterlassen hat, auch Kommoden oder Spiegel mit Jugendstilgeranke gestaltete, bevor es den Jugendstil gab, Landidylle romantisierend in einen Wandteppich zu weben vermochte. Mit über 100 Werken will die Kunsthalle zum zweiten Mal die Bedeutung des Künstlers behaupten. 1967 wurde mit der ersten Bernard-Retrospektive die Frage untersucht, ob er Meister oder Jünger, eigensinniger Innovator oder schlauer Epigone der Avantgarde war. Nun kuratierte Dorothee Hansen eine Ausstellung der Pariser Musées d’Orsay et de l’Orangerie für Bremen neu, präsentiert neben dem Katalog der Vorgängerschau auch das dafür erworbene Stickeralbum mit 850 hineingeklebten Skizzen Bernards – und widerspricht gleich mal dem Ausstellungstitel. „Bernard war nicht am Puls der Moderne, er war ihr Wegbereiter.“ Die Schau kann die These nicht beweisen, gibt aber Beispiele, die dementsprechend interpretiert werden können.

Ende des 19. Jahrhunderts: Der 16-jährige Kunststudent Bernard zieht mit Toulouse-Lautrec durchs Pariser Nachtleben. Neben dessen fideler Can-Can-Kohlezeichnung zeigt Bernards auf Packpapier gemalte „Stunde des Fleisches“ eine konspirativ dämmrige Bordellkneipe, Beischlafdeals scheinen ausgehandelt zu werden, die Gesichter sind in Vorahnung datenschutzrechtlicher Bedenken unkenntlich gemacht. Je länger der Kaufmannssohn aus Lille sich aber diesem Sujet widmet, desto ruppiger und ironisch-kumpelhafter werden die Zeichnungen und Prostituierte als Kolleginnen des gesellschaftlichen Außenseitertums gezeigt. Nebenher ist Bernard „mit seinen pointilistischen Werken ganz weit vorn in den Salons“, sagt Hansen.

Also Schluss mit der Verpixelung der Welt. 1886 legt Bernard mit „Bretoninnen auf der Wiese“ die Grundlage seines eigenen Ismus: Synthetismus. Formen der Motive lösen sich nicht mehr impressionistisch in pulsierenden Farbräumen auf, sondern werden zu Flächen zusammengeführt und mit dunklem Strich deutlich konturiert. „Vereinfachung, Verflächigung und Power-Farben“, das sind für Hansen die Komponenten des Stils. Ein so stilisiertes Porträt seiner Großmutter (1887) schenkte Bernard seinem Malerfreund van Gogh; dessen Antwort in Öl („Alte Frau aus Arles“, 1888) ist ebenfalls in Bremen zu sehen, weicher, wärmer, traditioneller als in Bernards Stillleben, wo der kompakte Reduktionismus so roh wie kühn seiner Zeit voraus wirkt. Eine Orange ist eine Grundform: eine orangefarbene Scheibe. Im lässigen Arrangement der Gegenstände hat auch die Leere ihren Platz, wenn dann ein Krug mal nicht mehr ins Format passt – wird er einfach abgeschnitten. Ein freches Spiel wider die geschmäcklerische, satt getönte Eat-Art der Kollegen – wie das dazugehängte „Stillleben mit japanischem Fächer“ des Bernard-Freundes Paul Gaugin. Beide bastelten derweil am Konzept des Symbolismus. Bernard suchte nach dem Sinn hinter den Dingen, Gaugin wollte Fantasie und Realismus zu höherer Bedeutung zusammenfügen. Der Malerstar, 40 Jahre alt, und der Shootingstar, 20 Jahre alt. „Das Lehrer-Schüler-Verhältnis kehrte sich schnell um“, weiß Hansen. Umso verärgerter reagierte Bernard, dass Gaugin als alleiniger Urvater der neuen Malschule angesehen wurde. Nun ja, der flüchtete in die Südsee, van Gogh verstarb. „1891 war Bernard der modernste Maler in Paris“, so Hansen. Und was macht er? Vertieft sich in altmeisterliche Techniken des Mittelalters. Malt „Ein Bordell“ (1893) – in kühl arrangierter Einsamkeit hocken Prostituierte, als wollten sie auf Edward Hopper vorausweisen. Auch tunkt er Genreszenen in bläulichen Schimmer – eine Idee, die Picasso in seiner blauen Periode aufgreift.

Als schließlich die Expressionisten, Fauvisten, Kubisten lostobten, lebt Bernard seine spirituelle Ader in Italien auf der Suche nach der idealen Form im Renaissancestil aus, fertigt 1912 ein Selbstporträt in „Tizian-Attitüde“ (Hansen). Nimmt die Moderne zurück. Findet keinen Anschluss mehr an die Kunstszene. Stirbt 1941. Wird vergessen. Auch eingedenk der kindersegensreichen Frauengeschichten des vagabundierenden Freigeistes böte das Leben genügend Stoff für einen Hollywoodfilm, meint Hansen. Der eine beeindruckend pointierte Ausstellung gelungen ist, die Bernards Schlingerkurs als Reise durch die Malereigeschichte inszeniert. Muss die Kunsthistorie nach all den in Bremen vermittelten Erkenntnissen umgeschrieben werden? „Sie kann jetzt verfeinert dargestellt werden“, relativiert Hansen.

■ Émile Bernard – Am Puls der Moderne, bis 31. Mai 2015, Kunsthalle Bremen, dienstags 10–21 Uhr, mittwochs bis sonntags 10–18 Uhr