„Langeweile ist voll wichtig“

DIE MUSIKBEGEISTERTE Gleich nach dem Abitur packte Katja Lucker ihre sieben Sachen und verließ die niedersächsische Provinz in Richtung Berlin. Dort sammelte sie prägende musikalische Großstadterfahrungen, etwa bei einem Weihnachtskonzert in der Volksbühne, bei dem die Besucher auf die Sitze kotzten. Inzwischen tritt Berlins Popbeauftragte selbst als Akteurin in Erscheinung – mit neuen Festivalkonzepten

■ Der Mensch: Katja Lucker, Jahrgang 1969, ist seit Anfang 2013 Leiterin des Musicboard Berlin. Lucker arbeitete zuvor seit 1997 als selbstständige Kulturmanagerin unter anderem für die Kulturbrauerei, für den Karneval der Kulturen oder in Projekten gemeinsam mit Sasha Waltz und ihrem Ensemble. Aufgewachsen ist sie im niedersächsischen Hemmoor (im Dorf Osten, zwischen Cuxhaven und Stade). Sie hat ein Schauspielstudium abgeschlossen sowie Philosophie und Germanistik studiert.

■ Das Musicboard wurde zum Jahr 2013 als Institution zur Förderung der Pop- und Musikkultur von Klaus Wowereit und dem damaligen Senat ins Leben gerufen und erhält derzeit jährlich Mittel von etwa 1,7 Millionen Euro. Das Musicboard vergibt Stipendien an Musiker und Bands, fördert Clubs, Labels und Musikprojekte und wird von diesem Jahr an auch das im September im Berghain stattfindende Festival Pop-Kultur ausrichten, das die Berlin Music Week ablöst.

■ Berlin-Festivals 2015: Im Jahr 2015 gibt es gleich zwei neue Festivals in Berlin: Das vom Musicboard organisierte Festival Pop-Kultur wird vom 26. bis 28. August an acht verschiedenen Orten rund ums Berghain stattfinden – Pop-Kultur löst den Branchentreff Berlin Music Week ab, den es fortan nicht mehr gibt. Am 12. und 13. September soll es auf dem Tempelhofer Feld erstmals eine deutsche Ausgabe des legendären US-Festivals Lollapalooza geben (Infos: www.lollapaloozade.com). Das Berlin Festival wird in diesem Jahr dagegen erstmals Ende Mai veranstaltet (29. bis 31. Mai) – wie im Vorjahr finden die Konzerte an mehren Orten auf dem Gelände der Arena in Treptow statt (Infos: www.berlinfestival.de). (jut)

INTERVIEW JENS UTHOFF
FOTOS MIGUEL LOPES

taz: Frau Lucker, als Erstes eine Frage, die Sie als Popbeauftragte Berlins doch sicher beantworten können: Wie ist der Sound der Stadt im Jahr 2015, wie klingt Berlin heute?

Katja Lucker: Berlin klingt ja erst mal nach ganz viel, das ist wichtig. Am Wochenende hatte ich Besuch aus Hamburg. Der Besuch hat von irgendeiner – wahrscheinlich illegalen – Party geschwärmt mit ganz viel unterschiedlicher Musik und fetter Deko. Berlin hat in puncto musikalischer Vielfalt mehr zu bieten als andere Städte. Es ist oft sehr facettenreich und liebevoll gestaltet, das fällt mir immer auf. Berlins Sound ist eine Mischung aus ganz vielem: Im Berghain legt ein angesagter Londoner DJ auf, auf dem RAW-Gelände spielen HipHopper – und gleichzeitig bereitet sich der Karneval der Kulturen vor.

Gab es für Sie so etwas wie ein musikalisches Erweckungserlebnis in der Stadt?

Nein, ein einschneidendes Erlebnis gab es eigentlich nicht. Zuerst bin ich durch meinen zehn Jahre älteren Bruder mit Musik in Berührung gekommen. Dank ihm hörte ich von morgens bis abends The Doors und Led Zeppelin. Nachdem ich 1990 nach Berlin gekommen bin, habe ich zunächst Schauspiel studiert, mich viel im Theaterbereich bewegt. Ich bin in diese unglaublich dunkle Stadt gekommen und dachte: Was passiert hier? Und es passierte viel.

Gibt es denn ein musikalisches Berlin-Erlebnis, das prägnant war?

Heiligabend war ich mal in der Volksbühne und da haben The Fall gespielt. Es war ein saukalter Winter. Es war Weihnachten, und beim Konzert ging es so unweihnachtlich zu. Ich glaube, das war 1996. Menschen saßen in der Volksbühne und haben auf die Sitze gekotzt, das werde ich nie vergessen. Mark E. Smith ist ja auch so ein abgefahrener Typ, er hat sich auf der Bühne mit seiner Band gestritten. Das war irgendwie Berlin: Punk, krasse Musik, und man fühlt sich dennoch oder deshalb total zu Hause. Damals war es in der Volksbühne noch etwas anders, heute geht es dort ja sehr gesittet zu.

Haben Sie also die Musik erst in Berlin richtig für sich entdeckt?

Nein, ich hatte vorher schon Schlagzeug gelernt. Ich war in Hemmoor – das liegt zwischen Cuxhaven und Stade – mit Thees Uhlmann zusammen auf dem Gymnasium. Wir waren Landkinder, kamen aus der kulturellen Ödnis und mussten Partys feiern. Es gab immer große, selbst organisierte Partys. Oder aber wir fuhren in die Discos im Umland.

Profitiert die Stadt heute davon, dass viele Provinzler kamen, die wussten, wie man Partys klarmacht?

Total. Die besten Leute kommen aus der Provinz, auch in der Kunst. Auch wenn sie zum Teil schon lange hier sind, wie etwa Gudrun Gut (die einst aus Celle kam und die Band Malaria! gründete, Anmerkung der Redaktion). Ich denke aber auch an Leute wie den Tresor-Gründer Dimitri Hegemann oder den Fotografen und den langjährigen Maria am Ostbahnhof-Betreiber Ben de Biel. In der Provinz ist es unglaublich langweilig – und ich finde Langeweile ist was Gutes. Es gibt nichts Schlimmeres als diese Kinder, die mit allem bespaßt und bombardiert werden. Langweile ist voll wichtig. Ohne Langeweile entsteht nichts Neues.

Und um sich nicht zu langweilen, spielten Sie Schlagzeug.

Ja, ich habe eine Zeit lang in einer Band gespielt. Es ging mir aber primär nicht darum, aufzutreten. Ich fand es cool, Schlagzeug zu lernen. Für die Jungs war es eher so: Scheißegal, ob die das kann, aber es ist ein Mädchen, das Schlagzeug spielt.

Das war auf dem Land schon extrem außergewöhnlich, oder?

Ja, schon, ich hatte auch eine frisierte 80er, will sagen: Ich hatte eh irgendwie einen komischen Status. Ich fuhr Moped, spielte Schlagzeug, unternahm was mit Hauptschülern: Irgendwie war ich komisch. Ich fand die Leute auf dem Gymnasium auch doof und langweilig. Die Haupt- und Realschüler waren wenigstens in irgendwelchen Motorradcliquen unterwegs, das fand ich lustiger. Nachdem ich Abi gemacht hatte, war ganz schnell klar, dass ich nach Berlin will. Ich hab die Abifeier schon nicht mehr abgewartet. Ich habe mein Zeugnis abgeholt und bin mit einem Auto voll mit Sachen nach Berlin gefahren. Die ersten Tage habe ich im Auto geschlafen.

Hört sich nach einer für damalige Zeiten typischen Berlin-Karriere an.

Genau, man wusste gar nicht, was kommen wird. In Berlin bin ich ganz viel hin- und hergezogen. Ich hab viele Bezirke ausprobiert, um irgendwann in Prenzlauer Berg zu landen.

Nähern wir uns langsam der Gegenwart. Sie haben dann in ganz vielen verschiedenen Kulturinstitutionen gearbeitet.

Genau, aber immer selbstständig, unter anderem beim Karneval der Kulturen oder in der Kulturbrauerei. Die Stelle bei Musicboard ist meine erste Festanstellung, und genau genommen auch erst seit Beginn dieses Jahres, vorher hatte ich diese Position als Selbstständige inne. Seit Beginn des Jahres sind wir eine landeseigene GmbH.

Wie verliefen die ersten beiden Jahre bei Musicboard aus Ihrer Sicht? Von außen wurde die Einrichtung und der Start überwiegend wohlwollend bewertet.

Ja, erstaunlicherweise. Aber es gibt auch nicht so viel Angriffsfläche bei uns, weil wir ziemlich sparsam sind und das auch sein müssen. Und wir sind nicht funktionärsmäßig unterwegs oder so, sondern wir stecken die Gelder in Projekte. Wir machen das ernsthaft und gewissenhaft, wie ich glaube. Wir helfen den Künstlern und den Clubs, zum Beispiel mit Lärmschutzmaßnahmen. Was meines Erachtens gut funktioniert, ist, dass wir als Ansprechpartner fungieren. Wir sind die Instanz zwischen den Bezirken, der Verwaltung, den Anwohnern und den Clubs. Das ist für mich eine gute Zwischenbilanz.

Und Sie vergeben Stipendien.

Ja, wir fördern Künstler, und die können durch uns zum Teil von ihrer Kunst leben.

Sie haben etwa 1,7 Millionen Euro zur Verfügung, was für eine landeseigene Kulturinstitution nicht so wahnsinnig viel ist. Ist es die Politik des Musicboards, dass möglichst viele Kulturakteure von diesem Kuchen zumindest ein kleines Stückchen abbekommen?

Wir haben verschiedene Programme wie etwa das „Karrieresprungbrett Berlin“, bei dem Nachwuchskünstler finanziell unterstützt werden. Dann haben wir das „Pop im Kiez“-Projekt, wo es um die Gestaltung von Clubs und Kulturräumen geht. Wir legen immer wieder neue Programme auf. Gerade sind Festivals ein großes Thema. Finanziell setzen wir uns Grenzen – wir fördern etwa niemanden mit 100.000 Euro. Wir haben halt nicht so viel. Tim Renner hat 400 Millionen.

Sehen Sie es als Ihre Aufgabe an, noch mehr Mittel für die Popmusik zu bekommen?

Auf jeden Fall, klar, aber woher soll man die nehmen?

Von den 400 Millionen.

Na ja, dann nimmt man es anderen weg, und das ist per se erst mal nicht gut. Man kann auch nicht einfach in bestehende Strukturen eingreifen. Aber sicher äußert man seine Anliegen in Haushaltsverhandlungen, wir hätten zum Beispiel gerne einen Feuerwehrtopf von etwa einer Million Euro. Das wäre für Fälle, in denen man akut Clubs helfen muss oder so. Dann könnten wir flexibler reagieren.

In Underground- und Indieszenen war es lange verpönt, sich staatlich fördern zu lassen und so direkt gab es das auch gar nicht. Alles, was institutionell war, war nicht gerade angesehen. Heute fördern Sie solche Acts. Was ist da passiert?

Na ja, es gab damals auch schon den Senatsrockwettbewerb und solche Dinge …

die nicht so hoch im Kurs standen …

Das war auch vor meiner Zeit, aber ich glaube, da haben auch Die Ärzte mal gespielt. Ich finde, diese Debatte ist sowas von vorbei. Man kann dank staatlicher Institutionen als Künstler arbeiten, ohne sich existenziell Sorgen machen zu müssen. Und dann geht es dabei auch noch um so lächerlich wenig Geld im Vergleich zu allen anderen Etats.

Vielleicht ist die Skepsis aber zuweilen verständlich. Wenn man in Hamburg etwa die Popförderung nimmt, so werden dort Labels gefördert und man betreibt sehr offensiv Stadtmarketing mit der Szene. Gleichzeitig sehen die Künstler und Kreativen ihre Viertel kaputtgehen.

Hamburg ist da noch mal spezieller glaub ich. Nach Berlin kommen die Leute immer noch, die Stadt ist international von Künstlern geschätzt und im Vergleich zu Hamburg eben noch bezahlbar. Das stelle ich im Gespräch mit Künstlern immer wieder fest: sie finden es hier immer noch cool und die Lebensbedingungen noch okay. Aber das gilt es natürlich zu erhalten.

Von diesem Jahr an hat das Musicboard die Berlin Music Week übernommen. Sie bauen sie komplett um, nun gibt es ein Festival namens Pop-Kultur. Warum diese Kehrtwende?

Die Berlin Music Week war ein Branchentreff in der Nachfolge der Popkomm. Popkultur in Berlin muss 2015 meines Erachtens etwas anderes darstellen als dieses Messeformat. Da hat man zuletzt versucht, einen Schirm über die Stadt zu spannen und in Festivalform Musikfans zusammen zu bringen. Ich hatte das Gefühl, man hat keine eigene Sprache gefunden. Als die Entscheidung fiel, dass wir die Berlin Music Week übernehmen sollen, habe ich gesagt, in dieser Form könnten wir das nicht machen, weil wir es für inhaltlich nicht richtig hielten.

Nun soll es ein interdisziplinäres, diskurslastigeres Festival werden. Neurobiologen sollen einem etwas über Musik erzählen.

Ja, einige sind natürlich schreiend rausgerannt, als wir das Konzept vorgestellt haben. Aber das gehört dazu. Wir probieren jetzt einfach mal was aus und stellen andere Fragen. Unser Nachwuchsformat in den Opernwerkstätten ist zum Beispiel angelehnt an den Berlinale Talent Campus – jetzt Berlinale Talents. Es ist ein sehr ernst gemeintes Format, wo junge Musiker, Musikjournalisten, Agenten und Labels sich bewerben können und eingeladene Künstler Workshops für sie geben.

Wie sieht Ihre Philosophie für das Festival aus?

Es geht uns etwa darum, Themen in der Popkultur zu behandeln, die vielleicht nicht immer so geschmeidig sind – wie Depressionen oder Drogen. Es gibt viele Talk-Formate, wo zwei Menschen miteinander reden. Künstler und Kulturakteure sollen zusammenkommen und gemeinsam etwas machen, das sie so noch nicht gemacht haben. Ein hehres Ziel.

Und wieso wird das Festival im Berghain veranstaltet?

„Ich bin eine straighte Arbeiterin. Zu meinem Motto ‚Mehr Kunst, weniger Schnittchen‘ stehe ich“

Die Berghain-Betreiber entscheiden nur inhaltsgetrieben und fanden das Konzept gut. Wir haben jetzt acht Räume auf dem Gelände des Berghain, die wir bespielen. Und natürlich kommen alle rein, die ein Ticket haben. Danach fragen die Leute wegen der Türpolitik des Clubs wirklich.

Wie wird sich Pop-Kultur in das rundum erneuerte Festivalprogramm in Berlin fügen?

Wir gucken uns das in diesem Jahr erst mal an. Mit dem Lollapalooza gibt es im Herbst noch ein neues Festival auf dem Tempelhofer Feld und das Berlin Festival findet Ende Mai statt. Es ist gerade viel in Bewegung. Vielleicht werden wir mit Pop-Kultur auch grandios scheitern. Aber man muss auch scheitern können.

Zuletzt hörte man von verschiedenen Seiten, Lady Gaga gäbe sich mal wieder die Ehre.

Nicht, dass ich wüsste. Man könnte sich aber vorstellen, dass jemand wie Lady Gaga mit einem Pop-Theoretiker spricht. Das Festival ist interdisziplinär gedacht, Modemacher und bildende Künstler sollen auch zu Wort kommen. Und unbedingt auch dieser Neurobiologe, der noch mal ganz anders auf Musik, Synapsen, Techno und Hirn guckt.

Klaus Wowereit war Mitinitiator des Musicboards und Ihr Förderer. Inwieweit verändert die neue politische Konstellation Ihre Arbeit?

Für das Musicboard hat sich bisher nicht sehr viel geändert. Ich habe mit Michael Müller auch schon gesprochen; aber nicht, seitdem er im Amt ist. Im täglichen Geschäft haben wir nicht so viel mit ihm zu tun – da findet der Austausch eher über Tim Renner statt. Selbst bin ich eine straighte Arbeiterin, gleichzeitig legen wir mit dem Musicboard Sparsamkeit an den Tag – von daher ist Müller uns vielleicht gar nicht so fern. Zu meinem Motto, das ich bei der Zweijahresfeier des Musicboard ausgegeben habe – “Mehr Kunst, weniger Schnittchen“ – stehe ich. Auch der jetzige Regierende Bürgermeister wird wohl erkennen, wie wichtig die Pop- und Clubkultur für Berlin ist.

Der Kulturbetrieb ist in den Leitungsebenen immer noch männlich dominiert. Wie werden Sie als Frau dort wahrgenommen?

Es ist immer noch so, dass ich in Meetings oft die einzige Frau bin. Lustigerweise fällt mir das selbst immer erst nach einiger Zeit auf, wenn ich in die Runde schaue, denn ich agiere so wie ich agiere – nicht frauenspezifisch natürlich. Wenn ich in solchen Runden frage, warum keine Frauen da seien, sagen die Anwesenden gerne: ‚Wieso, Du bist doch hier..?‘ Das kann‘s doch nicht sein, oder? Das sitzen dann zwölf Typen und eine Frau.Vor kurzem war ich mal bei einem größeren Treffen, bei dem nur Männer saßen. Ich kam als letzte dazu, entschuldigte mich und musste mir dann folgendes anhören: „Mensch, gut dass Sie da sind, können Sie nicht noch ein paar Freundinnen anrufen?“ Voll witzig, oder?

So mittel. Wie wirken Sie solchen Macho-Haltungen entgegen?

Wir fördern und unterstützen gerne Projekte, in denen es um Genderthemen geht. Und wir haben eine Frauenquote beim Musicboard – wir schauen, dass mindestens 50 Prozent der unterstützten Künstler und Projektmacher Frauen sind.

Wie erleben Sie denn selbst das Berliner Clubleben? Gehen Sie privat noch viel aus?

Ja, ich gehe noch viel aus und das ist manchmal ein bisschen anstrengend mit dem Job. Es leiden bei mir oft eher andere Sachen, zum Beispiel mal Kochen für Freunde oder so. Vor allem darf das Lesen und das Sporttreiben bei mir nicht zu kurz kommen; das brauche ich, sonst drehe ich durch.

Wo waren Sie zum letzten Mal tanzen?

Beim Empfang des Medienboards im Ritz Carlton. Völlig strange. Ich wusste gar nicht, dass man da tanzen kann. Davor war ich das letzte Mal im Berghain, tatsächlich.