Ornament statt Emotion

Die neue Doppelcompagnie „Nordwest“ gibt in Bremen ihren tänzerischen Einstand mit zwei Arbeiten des Gastchoreografen Emanuel Gat. Die sind leider nicht markant genug, um für das neue organisatorische Modell zu begeistern

Die Musik ist schön: Dietrich Fischer-Dieskau singt Franz Schubert. Man möchte die Augen schließen, aber das wäre ganz verkehrt. Schließlich ist das ja gerade die Eröffnung der Tanztheater-Spielzeit am Bremer Theater mit „Voyage“ von Emanuel Gat. Der Antritts-Tanz nicht nur der neuen Generalintendanz, sondern auch die Bremer Premiere eines „für die deutsche Theaterlandschaft einzigartigen Modells“. So hatte es Hans-Joachim Frey, neuer Chef des Vier-Sparten-Hauses, bezeichnet: Die Bremer bilden gemeinsam mir den TänzerInnen des Oldenburger Staatstheaters die Compagnie „Nordwest“.

Rechnerisch ist die Sache schnell erklärt: Jede Truppe erarbeitet pro Spielzeit zwei Produktionen „zu Hause“ und eine gemeinsam. Da alles überall gezeigt wird, macht das unterm Strich jährlich fünf Premieren in beiden Häusern – deutlich mehr als zuvor. Die „langfristige Kooperation“ sei weder ein Sparmodell noch die Vorstufe einer Fusion, erklären Frey und sein Oldenburger Kollege Markus Müller unisono. Gestrichen wurden erstmal nur vier TänzerInnen-Stellen, so dass der Bremer und der Oldenburger Teil der Doppelcompagnie nun jeweils zehn Mitglieder zählt.

Was aber wird da inhaltlich auf die Beine und Bühnen gestellt – ein zwittrig zitternder Spagat? Oder neue bühnenästhetische Dimensionen? Die strukturelle Konstruktion bemüht sich, alle Bedürfnisse auszutarieren: In Oldenburg sitzt der „Nordwest“-Direktor, in Bremen die „leitende Dramaturgin“. Beide Compagnien haben einen „Choreographer in Residence“, zudem darf sich Urs Dietrich, der langjährige Leiter des bisherigen Bremer Tanztheaters, „Künstlerischer Leiter“ nennen. Das suggeriert Kontinuität, allerdings wird Dietrich, ebenso wie der Oldenburger Residenzchoreograph Jan Pusch, lediglich eine eigene Produktion zur Spielzeit beitragen. Ansonsten kommen Gastchoreographen zum Zug. 2007/08 sind das israelische KollegInnen; die Ausrichtung auf wechselnde Länderschwerpunkte hat Frey für alle Sparten eingeführt.

Klar ist, dass eine solche Struktur zur Vielfalt beiträgt, nicht aber zur Entwicklung einer profilstarken Ensemble-Identität. In Bremen, wo die frühere Tanztheatercompagnie sich durch eine bemerkenswert niedrige Fluktuationsrate ausgezeichnet hatte, ist dieser Paradigmenwechsel naturgemäß stärker spürbar als in Oldenburg – dort gab es in der vergangenen Spielzeit keine eigene Compagnie mehr.

Zurück zu „Voyage“: Wenn ein Playback dem Bühnengeschehen ernsthaft Konkurrenz macht, es stellenweise sogar dominiert, schmeichelt das der Choreografie wenig. Zwar sind Sunju Kim und Jae Won Oh begnadet tanzende Menschen, die ihnen zugeteilte Aufgabe aber ist primär figurativ: Mit virtuosem Bewegungsfluss produzieren sie einen Parallelstrang zu Schuberts „Winterreise“, der diese eben gerade nicht illustriert, aber auch keinen eigenen visuellen Sog schafft. Auch beim zweiten Stück vertraut Gat zu sehr der Macht der Musik: der Bach-Motette „Jesu meine Freude“. Immer wieder gelingen spannende Sequenzen, insgesamt jedoch enttäuscht der Vergleich mit Dietrichs Choreografien: Die waren von einer ganz anderen Vitalität geprägt.

Magali Sander Fett ist eine der vier vom Bremer Tanztheater übernommen TänzerInnen. Gemeinsam mit Miroslaw Zydowicz hat sie ein Duo, in dem Direktheit und persönliche Ausstrahlung dann doch mal zum Tragen kommen. Doch auch dieses Pas de Deux endet am Boden, in irgendeiner Konvention zwischen Koitus und kontaktimprovisatorischen Warm down.

Man hätte diesem Einstand Markanteres gewünscht – vor allem eine Bewegungssprache, die, wenn schon nicht als Kontrapunkt der Musik, wenigstens als starke eigene Stimme funktioniert. Kurz: Emotion statt Ornament. Die „Nordwest“-Compagnie, hat durch diesen Abend erst wenig Profil gewonnen. HENNING BLEYL