Doktorspiele zweier Schwäne

CHOREOGRAFIE Stücke von Antonia Baehr und des Künstlerduos Wilhelm Groener am HAU und in den Uferstudios

Nichts ist mit sich selbst identisch, sondern geht in Bewegung aufeinander zu

VON ASTRID KAMINSKI

Jetzt bist du tot. Du sollst jetzt tot sein. Du darfst nicht gucken, du bist TOT: Man muss keine große Erinnerungsarchäologie betreiben, um solche und ähnliche Direktive zu verorten. Sie haben wie Doktorspiele, Höhlenbauen oder Verkleiden ihren festen Platz in Kindheitserinnerungen.

Begegnungen mit diesen Archetypen von Erleben scheinen einen gleichzeitig latenten und exponentiellen Bewusstseinswert zu haben: Sie lösen die Wahrnehmung einer Erfahrung aus, die sich später aber erst als Teil eines Kollektiven herausstellt, dadurch bei jedem Ex-post-Abrufen und -Abgleichen größere Tiefe bekommt.

Erinnerungsräume

Diese Dimensionalität von Erinnerungsräumen benutzt Antonia Baehr für ihr jüngstes im HAU aufgeführtes Bühnenwerk „Misses und Mysterien“, ohne sie explizit zu thematisieren – mehr als Beiläufigkeitseffekt eines Wahrnehmungsexperiments, das sie als „choreografisches Hörspiel“ oder auch „‚Nouvelle Vague‘ Drag Show“ bezeichnet. Auf der Grundlage von audiodiskriptiven Beschreibungen für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen sowie John Smith’ Kurzfilm „The Girl Chewing Gum“ (1976), der sich wiederum auf Truffauts Technik des Regiekommentars zu „Day for Night“ bezieht, werden die räumlichen Bewegungen von zwei achtjährigen Kindern (Performance: William Wheeler) beschrieben. Sie werden mit weiblichem Personalpronomen eingeführt, tanzen als weißer und schwarzer Schwan zu Tschaikowsky-Reminiszenzen (Innenklavier Andrea Neumann), tragen aber Jungennamen.

Die erste Beschreibung eines Interieurs erfolgt im Dunkeln. Zur zweiten schält sich das beschriebene Setting (Stuhl, Schottendecke, Lampe, Haus – perspektivisch verjüngt als Puppenhaus) aus der Theaterdämmerung. Gleichzeitig wird die Beschreibung durch Vergleichen erweitert: „Die Schrauben in den Rückenlehnen (des Stuhls) sehen aus wie Augen.“ In einem dritten Durchlauf verselbstständigt sich dann einerseits die beschriebene Aktion, während die Beschreibung selbst durch ausgelöste Assoziationen angereichert wird: Die Doktorspiele werden plötzlich zum „Bauchauslöffeln“. Im letzten Durchlauf mischt sich dann wie bei Smith auch die Situation des Regisseurs metafiktional ins Geschehen ein. Anscheinend sitzen Baehr und ihre künstlerische Partnerin Valérie Castan zum Scriptschreiben auf einer weit entfernten Insel.

Es ist die Stärke dieses Formats, das es in vier Loops einerseits akribisch durchgestaltet ist, andererseits seine konzeptuellen Anordnungen in eine lasziv naive Sinnlichkeit ausdehnt. Das heißt nebenbei: Man wird schier zerrissen zwischen Konzentration und Wachträumen, zwischen Beschreibung und aus unterschiedlichen Quellen informierter Wahrnehmung.

Eine schöne Koinzidenz zu Baehrs Prozess des Editierens durch Vergleichen, Verbinden, Gegenüberstellen ergab eine andere überzeugende Arbeit des Wochenendes: Die choreografische Installation „o.T.“ in den Uferstudios bildete den Abschluss der K-Trilogie des Künstlerduos Wilhelm Groener und beinhaltete die Einladung, in Fragmenten aus Kafkas Tagebuch zu spazieren und in ein Found-footage-artiges Editieren von dessen Körperwahrnehmungen einbezogen zu werden.

An vier Tagen hatte das Publikum Gelegenheit, die choreografisch-installativen Echoräume von Zitaten auf sich wirken zu lassen, sie aufzunehmen und zur medialen Verarbeitung mit nach Hause zu nehmen. Dafür, dass das Konzept aufgehen könnte, spricht die atmosphärische Dichte von „o.T.“ drei- bis vierteiligen Stellagen, die Wände teils mit durchsichtiger Folie überzogen, teils ganz durchlässig, bildeten mal serielle Fächersträuße, mal verschattete Korridore als verwinkelten Raum im Raum, dessen graphische Strukturen in Schattenwürfen über die Wände wuchsen und sich dort mit weiteren live erzeugten Formelementen wie intuitiven Zeichnungen oder wabenartigen Zellpflanzungen vermischten.

Auf Zetteln und im Schreibmaschinentakt an die Wand gepinnt tauchten Kafka-Sätze auf wie „Sein eigener Stirnknochen verlegt ihm den Weg“. Sie scheinen wie katathymes Bilderleben aus dem Geschehen herauszuwachsen, oder umgekehrt, Irgendwann geht der Tänzer Günther Wilhelm tatsächlich auf seinen Stirnknochen als drittem Bein und schiebt sich so an die Winkel der Wände heran, dass sie einige Grade enger schnappen.

Seine Bewegungen entstehen meist aus den für dieses Projekt typischen Stauch-Streck-Dynamisierungen des Körpers, wie es etwa Raupen tun. Diese Variationen eines mehrtaktigen, durch Eigenschwingung erzeugten Fortbewegens übersetzen Kafka nicht, sie scheinen vielmehr aus der Sensibilisierung für Gewichtungen in seinem Körperdenken zu entstehen. Und das ist vielleicht überhaupt die choreografische Grundhaltung des Wochenendes: dass nichts mit sich selbst identisch sein kann, sondern nur in permanenter Bewegung aufeinander zu.