Fragliche Geschichte geglaubt

Als sie sich das Bein brach, ließ ein Mann seine 89-jährige Mutter unversorgt – keine Misshandlung, sagt das Gericht

Anna S. muss in einem erbarmungswürdigen Zustand gewesen sein. Ihr linker Oberschenkel war gebrochen, die 89-Jährige war blass, ausgetrocknet und unterernährt. Als ihre Enkelin Xenia sie so vorfand, rief sie sofort einen Rettungswagen. Und ging zur Polizei, um Anzeige gegen ihren Onkel zu erstatten. Denn die Großmutter lebte bei ihrem Sohn Waldemar W. Und dieser hatte sie nach ihrem Sturz eine Woche zuvor nicht ausreichend versorgt. Dafür musste W. sich gestern vor dem Amtsgericht Bergedorf verantworten.

Die angeklagte „Misshandlung von Schutzbefohlenen“ sah das Gericht als nicht erwiesen an. Der 55-Jährige wurde zu einer Geldstrafe verurteilt – und das, weil er seine Nichte für den Fall einer Anzeige mit dem Tode bedroht hatte.

Bis sie bei ihrem Sohn einzog, hatte Anna L. bei Xenia und deren Eltern gelebt und war nach Auskunft ihrer Enkelin noch äußerst agil gewesen: Sie kochte für sich selbst, „tanzte ein bisschen, trank ein bisschen“. Vorigen Herbst dann zog Waldemar W. in eine neue Wohnung und nahm die alte Dame bei sich auf. Rund drei Monate sah die Enkelin sie nicht mehr. Als sie ihre Großmutter dann Ende Februar wieder zu Gesicht bekam, war sie schockiert über deren Zustand: Rund eine Woche zuvor war Anna S. gestürzt und hatte sich den Oberschenkel gebrochen. „Da hat man ordentliche Schmerzen“, sagte ein Arzt vor Gericht.

Waldemar W. rief damals keinen Arzt. Er packte seine Mutter ins Bett, wo sie liegen blieb. Tagelang. Dass ihr Bein gebrochen war, wollte Waldemar W. gestern nicht gewusst haben: Er habe seine Mutter gefragt, und sie habe keinen Arzt gewollt. Früheren Zeugenaussagen zufolge soll W. Verwandten gegenüber geäußert haben, die alte Frau habe bereits lange genug gelebt. „Pflege ist eine ganz schwierige Situation“, erklärte W.s Verteidigerin. „So ein Spruch kann einem da schon mal rausrutschen.“

Ob Anna S. tatsächlich die Konsultation eines Mediziners abgelehnt hat, ließ sich gestern nicht mehr nachprüfen: Inzwischen ist die alte Frau verstorben. Das Gericht bezeichnete W.s Version denn auch als „fraglich“. Vorstellbar aber sei sie, und Anna S. habe ja das „Recht gehabt, trotz Schmerzen keinen Arzt zu rufen“.

Xenia jedenfalls hat sie nicht danach gefragt. Dafür, sagte sie gestern aus, habe die Oma zu „schlimm“ ausgesehen. ee