Umzugsstress verschiebt Maßstäbe

Radio Bremen kassiert eine klare Niederlage vorm Arbeitsgericht: Die fristlose Kündigung von Redaktionsleiter Gerhard Widmer war „deutlich unwirksam“. Einen Vergleichsvorschlag lehnt der Sender-Anwalt allerdings ab

Intendant Heinz Glässgen war nicht da, was Richterin Frauke Schmeling verwundert registrierte: „Sie hätten“, erinnerte sie den Radio-Bremen-Anwalt Hans Claussen, „das schriftlich beantragen sollen.“ Allerdings war Glässgens Abwesenheit verständlich: Er hatte Urlaub. Und sein Sender erhielt vom Arbeitsgericht eine absehbare Abfuhr.

Die gegen Redaktionsleiter Gerhard Widmer ausgesprochene fristlose Kündigung sei „deutlich unwirksam“, stellte Schmeling fest. Zwar sei es denkbar, einen Mitarbeiter nach 26 Dienstjahren zu entlassen. Der nicht belegte Vorwurf aber, sich unerlaubt zu einer Dienstreise nach Hamburg aufgemacht zu haben, um einen im Krankenhaus liegenden Regisseur zu besuchen: Der reiche nicht aus.

Am 9. November verkündet sie das Urteil. Es wird RB zur Wiedereinstellung verpflichten – außer, die Intendanz geht auf den Vergleichsvorschlag ein: Schmeling regte eine Entschädigung von 280.000 Euro an. Eine Summe, die, so Claussen, „jenseits von Gut und Böse“ liege.

Wie der Fall belegt, sind bei RB die Maßstäbe für Qualität und Recht ins Rutschen geraten – durch den Umzugsstress. Diesen Herbst siedelt man an einen citynahen Standort um. Das Organigramm der Anstalt hat man zuvor verschlankt: Die eigenständigen Fernseh-Redaktionen „Kultur und Gesellschaft“ und „Familie“ gingen am 1. April 2006 im Ressort „Dokumentation“ auf. Als Leiterin bestimmte die Intendanz Britta Lübke, vormals „Familie“. Widmer, Ex-„Kultur und Gesellschaft“, hätte sich unterzuordnen. Man habe ihren Mandanten damit, so Anwältin Sonja Litzig, „in eine rechtswidrige Hierarchie einstrukturiert“.

Widmer und Lübke vertrugen sich nicht. Ostentativ. Widmer hängte einen vergoldeten Fuchsschwanz an die Bürotür, rot beschriftet: „Für Britta Lübke zum 1. April“. Die sah darin eine drohend-blutige Säge. Er erläuterte ihr das als blöden Scherz. Sie beschwerte sich: Abmahnung für Widmer. Er kündigt an, nur noch vor Zeugen mit ihr zu sprechen: Zweite Abmahnung.

Dass die Konstellation Lübke-Widmer jemals funktionieren kann, bezeichnen RB-Leute, die den Prozess verfolgen, als „undenkbar“. Etwa 60 sind gekommen, außerordentlich viele für ein Arbeitsgerichts-Verfahren. Auch, weil die Personal-Frage das journalistische Selbstverständnis berührt: Widmers Name steht für Reportagen wie „Madeleine – Protokoll einer Genesung“. Das Porträt einer Schauspielerin, deren Gesicht ein Unfall entstellt hat, war 2006 für den Grimme-Preis nominiert. Lübke verantwortet die Zoo-Doku „Seehund, Puma & Co“ und war die erste westliche TV-Autorin, die Nordkorea bereisen durfte. Ihre Eltern hatten dort einst im Auftrag der DDR Wiederaufbauhilfe geleistet. Deren Erinnerungen an ein „Zauberland“ hat sie 2003 zum Ausgangspunkt ihres Films gemacht. Sie fahre dorthin „mit Ängsten“ schreibt sie damals, „weil die Realität Erinnerungen zerstören könnte“. Ein problematischer viel eher als ein kritischer Ansatz. BES